Aber er war nicht ganz das, wozu ihn die Leute machten, er war nicht so aus einem Gusse, nicht so rücksichtslos konsequent, wie es den Anschein hatte; denn obwohl er stets auf Kriegsfuß mit der idealen Richtung der Zeit lebte und ihr geringschätzige Namen gab, so hatte er doch für das Träumerische, Ätherische, für die blaue Blume der Romantik eine tiefere Sympathie als für die mehr erdgeborene Richtung, für die er kämpfte.
Widerstrebend verliebte er sich in Frau Boye, aber er sagte ihr das nicht, denn es war keine junge und offene, keine hoffnungsvolle Neigung. Er liebte sie wie ein Wesen von einer anderen, feineren, glücklicheren Rasse als seine eigene, und deswegen lag ein Groll in seiner Liebe, eine instinktmäßige Verbitterung gegen das, was Rasse in ihr war. Mit feindlichen, eifersüchtigen Augen betrachtete er ihre Neigungen und Ansichten, ihre Geschmacksrichtung und ihre Lebensanschauungen, und mit allen Waffen, mit feiner Beredsamkeit, mit herzloser Logik, mit überlegenem, in Mitleid gehülltem Spott erkämpfte er sie, gewann er sie für sich und für seine Ansichten. Aber als er endlich den Sieg davongetragen hatte, und sie geworden war wie er, da sah er ein, daß er viel zu viel gewonnen, daß er sie gerade mit ihren Illusionen und Vorurteilen, mit ihren Träumen und Irrtümern geliebt hatte, nicht aber als die, die sie jetzt war. Unzufrieden mit sich selber, mit ihr und mit allen in der Heimat reiste er von dannen und blieb fort.
Aus diesem Verhältnis konnten die Leute natürlich vieles machen, und das taten sie auch redlich. Die Etatsrätin sprach mit Niels darüber, wie die alte Tugend über jugendliche Irrtümer spricht, aber Niels nahm das in einer Weise auf, welche die Etatsrätin sowohl beleidigte als auch erschreckte; er antwortete ihr und sprach in hochtrabenden Worten von der Tyrannei der Gesellschaft, von der persönlichen Freiheit, von der plebejischen Rechtschaffenheit der Menge und von dem Adel der Leidenschaft.
Seit jenem Tage kam er nur selten mehr zu seinen fürsorglichen Verwandten, Frau Boye aber sah ihn um so häufiger.
Siebentes Kapitel.
Es war an einem Frühlingsabend, die Sonne schien rot in das Zimmer, sie war gerade im Begriff, unterzugehen. Die Flügel der Mühle da oben auf dem Wall warfen ihre Schatten auf die Fensterscheiben und auf die Wände des Zimmers, kommend, schwindend, in einförmigem Wechsel von Licht und Dämmerung, einen Augenblick Dämmerung, zwei Augenblicke Licht.
Am Fenster saß Niels Lyhne und starrte durch die bronzedunkeln Ulmen des Walles auf zu der Glut der Wolken. Er war außerhalb der Stadt gewesen, unter frischbelaubten Buchen, zwischen grünen Roggenfeldern und auf buntblumigen Wiesen; alles war so leicht und licht gewesen, der Himmel so blau, der Sund so blank, und die Frauen, denen er begegnete, so wunderbar schön. Singend war er den Waldweg entlang gegangen, dann verstummten die Worte seines Gesanges, dann legte sich der Rhythmus, dann erstarben die Töne, und das Schweigen überfiel ihn wie ein Schwindel. Er schloß die Augen, aber er merkte trotzdem, wie das Licht sich in ihn einsog und ihm durch alle Nerven strömte, während die kühl berauschende Luft bei jedem Atemzuge das sonderbar gelähmte Blut in immer ungestümerer Kraft durch die vor Schwäche zitternden Adern trieb, und es überkam ihn ein Gefühl, als ob all dies Wimmelnde, Berstende, Sprossende, Erzeugende in der Frühlingsnatur um ihn her – als ob es sich in ihm zu einem einzigen, lauten Ruf zu vereinigen suchte; und es dürstete ihn nach diesem Ruf, er lauschte, bis sein Lauschen sich in ein unklares, schwellendes Sehnen verwandelte.
Er war seines eigenen Ichs müde, ach so müde der kalten Gedanken und Hirngespinste. Das Leben selbst ein Gedicht! mußte er erkennen und sich zurufen. Nicht, wenn man beständig umherging und an seinem Leben dichtete, statt es zu leben. Wie war es doch inhaltlos, leer, leer, leer! Dies Jagen nach sich selber, dies genaue Beobachten der eigenen Spur, und immer im Kreise sich drehend; dies sich zum Schein hinausstürzen in den Strom des Lebens, während man doch gleichzeitig dasaß und nach sich selber angelte, sich selber in irgendeiner seltsamen Vermummung auffischte! Wenn es doch über ihn kommen wollte, das Leben, die Liebe, die Leidenschaft, so daß er es nicht mehr dichtete, sondern daß es aus ihm eine Dichtung machte!
Unwillkürlich machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Er war im innersten Innern bange vor dem Gewaltigen, das man Leidenschaft nennt. Dieser Sturmwind, der all das Gesetzte, all das Anerkannte, all das Erworbene bei dem Menschen im Wirbel mit sich fortführt, als wären es welke Blätter! Danach strebte er nicht. Diese prasselnde Flamme, die sich in ihrem eigenen Rauch verzehrt – nein, er wollte langsamer brennen.
Und doch, es war so kläglich, dies Dahinleben mit halber Kraft, in stillen Gewässern, ohne die Küste aus den Augen zu verlieren; wenn es doch nur lieber mit Strom und Sturm kommen wollte! – wenn er nur wüßte, wie!
Er wollte mit vollen Segeln die Fahrt über das Meer des Lebens wagen. Lebt wohl, ihr langsam dahinschleppenden Tage; lebt wohl, ihr glücklichen, kleinlichen Augenblicke; lebt wohl, ihr matten Stimmungen, die man mit Poesie aufputzen muß, um ihnen Glanz zu verleihen; ihr lauen Gefühle, die man in warme Träume kleiden muß, und die trotzdem erfrieren. Ich überlasse euch eurem Schicksal! Ich steuere einem Strande zu, wo sich die Stimmungen gleich üppigen Ranken um alle Fibern des Herzens schlingen, ein undurchdringlicher Wald; auf jede welkende Ranke kommen dort zwanzig in voller Blüte, und auf jede blühende Ranke hundert mit jungen frischen Trieben. Ach, daß ich dort wäre!
Seine Sehnsucht ermüdete ihn, er war seiner selbst überdrüssig. Er bedurfte der Menschen. Aber Erik war natürlich nicht zu Hause. Mit Frithjof war er am Vormittag zusammengewesen, und um ins Theater zu gehen, war es schon zu spät.
Trotzdem ging er ins Freie und schlenderte mißmutig in den Straßen umher.
Vielleicht war Frau Boye zu Hause? Es war freilich heute nicht ihr Empfangsabend, und reichlich spät war es auch schon. Den Versuch konnte er ja doch einmal wagen.
Frau Boye war zu Hause.
Sie war allein; die Frühlingsluft hatte sie zu sehr ermüdet, um mit der Nichte zu einem Diner zu gehen, sie hatte es vorgezogen, sich auf das Ruhebett zu legen, starken Tee zu trinken und Heine zu lesen; nun aber hatte sie genug von der Poesie und hätte am liebsten Lotto gespielt.
Und so spielten sie denn Lotto miteinander. Fünfzehn, zwanzig, siebenundfünfzig, und eine lange Reihe von Zahlen – das Rasseln der hölzernen Nummern in dem Beutel, und ein unablässiges Rollen und Kugeln in der Wohnung über ihnen.
»Es ist nicht amüsant«, sagte Frau Boye, als sie nach einer Weile noch keine einzige Karte besetzt hatten. »Wie? – Nein«, antwortete sie sich selber und schüttelte mißmutig den Kopf. »Aber was können wir denn sonst nur spielen?«
Sie faltete die Hände über den Zahlen vor sich und sah Niels verzweiflungsvoll an.
Niels wußte wirklich gar nichts.
»Sagen Sie um Gottes willen nicht Musik!« Sie beugte ihr Gesicht über ihre Hände herab und berührte die gefalteten Finger mit ihren Lippen, einen Knöchel nach dem anderen, die ganze Reihe entlang und wieder zurück.
»Es ist das abscheulichste Dasein, das man sich nur denken kann«, sagte sie und blickte auf. »Es ist völlig unmöglich, auch nur das Allergeringste zu erleben, und wie soll uns nur das wenige, was das Leben abwirft, in Atem halten, wie, fühlen Sie nicht ganz dasselbe?«
»Ja, ich weiß wirklich nichts Besseres vorzuschlagen, als daß wir es machen, wie der Kalif in Tausendundeiner Nacht. Wenn Sie zu dem seidenen Schlafrock, den Sie anhaben, nur ein weißes Tuch um den Kopf nähmen, und wenn ich Ihren großen ostindischen Schal umtäte, so könnten wir ganz ausgezeichnet zwei Kaufleute aus Mossul vorstellen.«
»Und was sollten wir unglücklichen Kaufleute dann nur anfangen?«
»An die Sturmbrücke hinabgehen und für zwanzig Goldstücke ein Boot mieten und auf die dunkle Flut hinaussegeln.«
»Vorbei an den Sandküsten?«
»Ja, mit farbigen Lanzen an den Masten.«
»Wie Ganem, der Sklave der Liebe. Wie genau ich ihn wiedererkenne, den ganzen Gedankengang; es ist so recht männlich, gleich so eilig darüber herzufallen, die Szenerie auszumalen, und die Situation, und über all den Äußerlichkeiten die Hauptsache zu vergessen. Haben Sie es wohl beachtet, wie ungleich weniger phantastisch wir Frauen sind, als die Männer? Wir können dem Genuß nicht so in unserer Phantasie vorgreifen oder uns die Leiden mit einem phantastischen Troste vom Leibe halten.
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