Sie machte unwillkürlich eine Bewegung, wie um sich zu erheben, bezwang sich aber und blieb ruhig liegen, wendete nur den Kopf ein wenig und schaute Niels fragend an.

»Da sind sie«, sagte er und trat mit den Blumen an sie heran.

Sie streckte die Hand danach aus, verglich mit einem flüchtigen Blick die Farbe der Blumen mit der Farbe ihres Gewandes und ließ sie mit einem müden Unmöglich! fallen.

Mit einer abwehrenden Bewegung der Hand hinderte sie Niels, die Blumen aufzuheben.

»Gib mir das da«, sagte sie und zeigte auf ein rotes Fläschchen, das auf einem zerknitterten Taschentuch neben ihren Füßen lag.

Niels trat an das Fußende des Ruhebettes, er war dunkelrot geworden, und indem er sich hinabbeugte über diese mattweißen, sich langsam rundenden Beine und über diese langen, schmalen Füße, die in ihren fein geschweiften Formen etwas von der Intelligenz der Hand hatten, überfiel ihn ein Schwindel, und als sich in demselben Augenblick der eine Fuß mit einer plötzlichen Bewegung krümmte, war er nahe daran, umzufallen.

»Wo hast du die Kornblumen gepflückt?« fragte Edele.

Niels raffte sich auf und wandte sich nach ihr um. »Sie standen zwischen dem Roggen auf dem Pfarracker«, antwortete er mit einer Stimme, über die er sich selber wundern mußte, es war so viel Klang darin. Ohne aufzublicken, reichte er ihr das Fläschchen.

Edele bemerkte seine Erregtheit und sah ihn staunend an. Plötzlich errötete sie, stützte sich auf den einen Arm und zog die Beine unter den Rock. »Geh, geh, geh, geh!« sagte sie halb ärgerlich, halb verlegen, und bei jedem Wort sprengte sie etwas von der Rosenessenz auf Niels.

Niels ging.

Als er zur Tür hinaus war, ließ sie langsam die Beine von dem Ruhebett herabgleiten und betrachtete sie neugierig.

Mit hastigem, unsicherem Gang eilte Niels durch die Stuben auf sein Zimmer. Er war ganz verwirrt, er fühlte eine so wunderbare Mattigkeit in seinen Knien und hatte ein Gefühl im Halse, als müßte er ersticken. Dann warf er sich auf das Sofa und schloß seine Augen, aber er konnte keine Ruhe finden. Es war eine unbegreifliche Unruhe über ihn gekommen, das Atemholen ward ihm so schwer, er empfand eine quälende Angst, das Licht schmerzte ihn trotz der geschlossenen Augen.

Nach und nach wurde das anders, es war, als umfächelte ihn ein warmer, drückender Atem, der ihn so hilflos machte, so matt. Er hatte ein Gefühl, wie man es wohl im Traume hat, uns ruft etwas, wir wollen so gern kommen, aber es ist uns nicht möglich, einen Fuß zu bewegen, unsere Ohnmacht treibt uns das Blut siedend heiß durch die Adern, die Sehnsucht fortzukommen verzehrt uns, die rufende Stimme, die ja nicht weiß, daß wir gebunden sind, treibt uns zum Wahnsinn. Und Niels stöhnte wie ein Fieberkranker, er sah sich im Zimmer um, noch niemals hatte er sich so unglücklich gefühlt, so einsam, so verstoßen und verlassen.

Er setzte sich ans Fenster in den Sonnenschein und weinte bitterlich.

Von diesem Tage an fühlte sich Niels ängstlich beglückt durch Edelens Nähe. Sie war kein Mensch mehr, wie alle die anderen, sondern ein wunderbares höheres Wesen, göttlich geworden durch das Geheimnis einer seltsamen Schönheit, und es war eine süße Wonne, sie anzuschauen, in seinem Herzen vor ihr zu knien, in selbstvernichtender Demut im Staube vor ihren Füßen zu kriechen. Zuweilen aber steigerte sich sein Gefühl der Anbetung derart, daß es sich in einem äußeren Zeichen der Unterwerfung Luft machen mußte, und dann erspähte er einen günstigen Augenblick, um sich in Edelens Zimmer zu schleichen und heiße Küsse in unendlicher Zahl auf den kleinen Teppich vor ihrem Bett zu pressen, auf ihre Schuhe oder sonst auf irgendeine Reliquie, die sich seiner Leidenschaft darbot.

Als ein großes Glück betrachtete er den Umstand, daß seine Sonntagsjacke gerade in der Zeit zum Alltagsdienst erniedrigt wurde, denn in dem Duft, den jene Tropfen Rosenessenz hinterlassen hatten, besaß er einen mächtigen Talisman, der ihm gleichsam in einem Zauberspiegel Edele so zeigte, wie er sie gesehen hatte, in dem Maskeradenkostüm auf dem grünen Ruhebett liegend.

In der Geschichte, die er Frithjof erzählte, kehrte dies Bild unablässig wieder, und der unglückliche Frithjof war jetzt nie mehr sicher vor barfüßigen Prinzessinnen: schleppte er sich durch die Dickichte des Urwaldes dahin, so riefen sie ihn aus ihrer Hängematte von Lianen an, suchte er in einer Berghöhle Schutz vor der Wut des Orkans, so erhoben sie sich von ihrem Lager aus samtweichem Moos und hießen ihn willkommen, und sprengte er, pulverdampfgeschwärzt, blutbefleckt, mit kräftigem Säbelhieb die Kajüte des Piraten, so fand er sie auch dort, hingegossen auf dem grünen Sofa des Kapitäns. Sie langweilten ihn sehr, und er konnte gar nicht fassen, warum sie plötzlich so notwendig geworden waren für die lieben Helden. –

Wie himmelhoch ein Menschenkind auch seinen Thron gestellt haben mag, wie fest es auch die Tiara der Ausnahme, die Genie bedeuten soll, auf seine Stirn gedrückt hat, es kann sich doch niemals sicher davor fühlen, daß es nicht einmal gleich König Nebukadnezar die seltsame Lust anwandelt, auf allen vieren zu gehen und mit den niederen Tieren des Feldes Gras zu fressen.

Also geschah es Herrn Bigum, indem er sich ganz einfach in Fräulein Edele verliebte. Und es half ihm nichts, daß er, um diese Liebe zu entschuldigen, die Weltgeschichte veränderte, es half ihm auch nichts, daß er Edelen Beatrice, Laura oder Vittoria Colonna nannte, denn alle die künstlichen Glorien, mit denen er seine Liebe schmückte, erloschen ebenso schnell, wie er sie angezündet hatte, von der unleugbaren Wahrheit, daß er sich in Edelens Schönheit verliebt hatte, und daß es nicht die Eigenschaften des Herzens oder des Geistes waren, die es ihm angetan hatten, sondern einzig und allein ihre Eleganz, ihr leichter Weltton, ihre Sicherheit, ja sogar ihre graziöse Unverschämtheit. Es war nach jeder Richtung hin eine Liebe, die ihn mit schamvoller Verwunderung über den Wankelmut der Menschenkinder erfüllen mußte.

Und was tat das denn schließlich? Was hatten sie denn alle zu sagen, diese ewigen Wahrheiten und flüchtigen Lügen, die wie Ringe ineinander griffen und den schweren Panzer bildeten, den er seine Überzeugung nannte, was hatten die gegen seine Liebe zu sagen? Sie waren ja das Mark und der Kern des Lebens, da konnten sie ihre Stärke beweisen; waren sie schwächer, nun so mußten sie brechen; waren sie aber stärker – Aber sie waren ja gebrochen, auseinander gezerrt wie das Gewebe morscher Fäden. Was kümmerte sie sich um die ewigen Wahrheiten! Und die großartigen Visionen, was halfen ihm die? Die Gedanken, welche die Tiefe der Unendlichkeit erforschten, konnte er sie mit ihnen erringen? Es war ja alles wertlos, was er besaß! Leuchtete auch seine Seele in einer Pracht, welche die Sonne tausendfach überstrahlte, was nützte ihm das, wenn er sie unter dem armutshäßlichen Filz einer Diogeneskappe verbarg? Form, Form! gebt mir die dreißig Silberlinge der Form für meinen Inhalt! Gebt mir den Körper eines Alcibiades, den Mantel eines Don Juan und den Rang eines Kammerjunkers!

Aber das alles besaß er nun einmal nicht, und Edele fühlte sich keineswegs sympathisch berührt von dieser plumpen Philosophennatur, die die Regungen des Lebens nur in der barbarischen Nacktheit der Abstraktionen betrachtet hatte, und die deswegen in ihren Äußerungen etwas lärmend Absolutes hatte, das sich mit unangenehmer Sicherheit vordrängte, etwa wie eine verkehrt angebrachte Trommel in einem melodischen Konzert. Das Angestrengte, was er an sich hatte, daß sich sein Gedanke jeder kleinen Frage gegenüber gleichsam mit gespannten Muskeln in Position stellte, wie ein starker Mann, der mit eisernen Kugeln spielen will, das machte ihn in ihren Augen lächerlich, und es ärgerte sie, wenn er, getrieben von einer urteilssüchtigen Moral, das Inkognito jedes leicht angedeuteten Gefühles verriet, indem er es unerzogenerweise bei seinem rechten Namen nannte, gerade in dem Augenblick, wo es im flüchtigen Lauf des Gespräches an ihm vorübereilen wollte.

Bigum wußte sehr wohl, welch unvorteilhaften Eindruck er machte, und wie völlig hoffnungslos seine Liebe war; aber er wußte es so, wie man etwas weiß, wenn man mit der ganzen Macht der Seele hofft, daß dies Wissen auf einem Irrtum beruhen möge. Es gibt noch Wunder, und wenn die Wunder auch nicht gerade geschehen, so könnten sie doch geschehen. Wer weiß? Vielleicht irrt man, vielleicht täuschen uns unser Verstand, unsere Einbildungskraft oder unsere Sinne trotz ihrer tageshellen Klarheit, vielleicht kommt es nur darauf an, den unvernünftigen Mut zu haben und dem Irrlicht der Hoffnung zu folgen, das über der wilden Gärung der Leidenschaften brennt. Erst wenn die Tür der Entscheidung hinter uns ins Schloß gefallen ist, graben sich die eisenkalten Klauen der Gewißheit in unsere Brust, um sich langsam, langsam im Herzen zu sammeln um den nervenfeinen Faden der Hoffnung, an dem die Welt unseres Glückes hängt; dann wird der Faden zerschnitten, und das, was er trug, fällt und wird zermalmt, und durch die schreckliche Leere dringt der wilde Schrei der Verzweiflung.

Niemand verzweifelt, so lange er noch im Zweifel ist. –

An einem sonnigen Septembernachmittage saß Edele draußen auf der Plattform der breiten, altmodischen Holztreppe, die in fünf, sechs Stufen aus dem Gartenzimmer in den Garten hinabführte. Die Glastüren hinter ihr waren weit geöffnet und gegen die Mauer mit ihrer bunten, leuchtend roten und grünen Bekleidung von wildem Wein gelehnt. Sie stützte ihr Haupt gegen den Sitz eines Stuhles, der mit großen, schwarzen Mappen belastet war, und hielt einen Kupferstich mit beiden Händen vor sich hin. Kolorierte Blätter, welche byzantinische Mosaike wiedergaben, in denen Blau und Gold vorherrschten, lagen auf dem verblichenen Grün der Binsenmatte, auf der Türschwelle und dem eichenbraunen Parkettfußboden der Gartenstube ausgebreitet. Am Fuße der Treppe lag ein weißer Schutzhut, denn Edele war barhäuptig und trug keinen andern Schmuck als eine Blume von Goldfiligran, deren Muster zu dem Armband paßte, das sie hoch oben am Arme trug. Ihr weißes Kleid, aus halbklarem Stoff mit schmalen, seidenblanken Streifen, hatte eine eingewebte Kante von grauer und orangefarbener Chenille und war mit Rosetten in denselben beiden Farben besetzt. Helle Halbhandschuhe bedeckten ihre Hände und reichten bis über den Ellenbogen hinauf. Sie waren, wie ihre Schuhe, von perlgrauer Seide.

Durch die herabhängenden Zweige einer uralten Esche sickerte das goldene Sonnenlicht strahlenweise auf die Treppe herab und bildete in dem dämmerigen, halbklaren Schatten einen leuchtenden Strom, der die Luft umher mit goldenem Staub erfüllte und helle Flecken auf die Stufen der Treppe, auf die Tür und an die Wand zeichnete, Sonnenfleck neben Sonnenfleck, so daß es war, als leuchtete durch einen löcherigen Schatten alles dem Licht mit eigenen Farben entgegen, weiß von Edelens weißem Kleide, purpurblutig von den Purpurlippen, und bernsteingelb von dem bernsteinblonden Haar. Und ringsumher in hundert anderen Farben, in Blau, in Gold, in Eichenbraun, in glasblankem Spiegelglanz, in Rot und Grün.

Edele ließ den Kupferstich fallen und erhob hoffnungslos ihren Blick: ihre Augen sprachen in stummer Klage den Seufzer aus, den zu seufzen sie zu müde war.