Sie sah jetzt ordentlich wie eine kleine Hausmutter aus.
»Na, Dickerchen?«
Auch Frau Wachtel machte jetzt große Augen. Amalie pappte.
»Ja, mein Junge! Sie essen alle, und mein Dickerchen soll gar nichts haben! Wie? – Aber das läßt er sich nicht gefallen! Wie? – Ach, bitte, Frau Thienwiebel! Reichen Sie mir doch das bißchen Biskuit da von der Kommode her. Auch die Milch, bitte!«
Frau Thienwiebel erhob sich schwerfällig und brachte das Verlangte.
Die kleine Mieze hatte den Biskuit jetzt aufgeweicht und fing nun an, den kleinen Fortinbras damit zu füttern. Von ihrem Teller, auf dem neben den drei gebratenen Äpfeln nur noch ein paar kleine fetttriefende Hautstückchen lagen, naschte sie kaum.
Der kleine Fortinbras stöhnte vor Behagen.
»He? Willst du noch mehr, Dickerchen? Noch mehr?«
Der kleine Ole hatte sich jetzt neugierig über den Tischrand gebogen. Sein Schnurrbärtchen duftete nach chinesischer Tusche.
»Nein! Nein! Nu sieh doch bloß, Dickerchen! Wie es dem Balg schmeckt! – Was?! – Noch mehr?! – No! No! Nur nicht gleich schreien! – So!«
Frau Wachtel war jetzt ordentlich bis zu Tränen gerührt. Und wenn sie bis zu Tränen gerührt war, vergaß sie es auch nie von ihrer verstorbenen Pflegetochter zu erzählen. Und das kam ziemlich oft vor.
»Ja, sehn Sie! Sie war ein Engel, Frau Thienwiebel! Ein Engel!«
Frau Thienwiebel kaute.
Frau Wachtel beschrieb jetzt ausführlich die Krankheit des Engels und wie er dann gestorben war. Er hatte Malchen geheißen und war dabei so himmlisch geduldig gewesen.
»Ja, sehn Sie, Herr Nissen! Sie war mein Einz'ges! Sie tröstete mich noch, als schon der Tod kam. Sie war ein Engel!«
Sie hatte sich jetzt auch auf ihr Taschentuch besonnen und drückte es sich nun abwechselnd in die Augen.
»Ach, wein doch nicht, Mutterchen! Wein doch nicht! Nun komm ich ja zum lieben Gott!«
Sie weinte jetzt, daß ihr die Tränen nur so auf ihr Seidnes kullerten!
Der kleine Ole war bereits eine ganze Zeit lang verlegen auf seinem Stuhl hin und her gerutscht. Er hatte es unten auf das kleine, niedliche Füßchen unterm Tisch abgesehn gehabt und war dabei eben auf die alten, phlegmatischen Filzpantoffeln der reizenden Ophelia gestoßen.
Er war ordentlich rot darüber geworden.
»Ja! Sehn Sie! Sie war mein Einziges!«
Der kleine Fortinbras plantschte vor Wonne.
»Grrr ... grrr ... grrr ...«
Dieses freundliche, frische Gesicht mit den hellen Augen und den blonden Löckchen über ihm – er kam gar nicht mehr raus aus dem Lachen! Sogar sein Streupulver hatte er vergessen!
»Grrr ... grrr ... grrr ... Aeh!«
Seine Händchen hatten jetzt in die Höhe gegrapscht, die kleine Mieze ließ von ihm ihre Stirnlöckchen zausen.
»Nein, Dickchen! Nu sieh doch bloß! Nu sieh doch bloß!«
Der kleine Ole schneuzte sich. Er war wie mit Blut übergossen.
»Ja! Das glaub' ich! Das hast du wohl noch nicht so gut gehabt, Dickerchen! Wie?«
Jetzt hatte sich endlich auch Frau Wachtel über ihn gebückt. Ihr Taschentuch lag wieder sauber ausgefältelt auf ihrem Schoß, sie kitzelte ihn wohlwollend unterm Kinn.
»Ach, mein Putteken! Ach, mein Mäuseken! Hab'n se dir so lange hungern lassen!«
Ihre Stimme zitterte, sie sah noch ganz verweint aus.
Amalie tunkte grade ihre Soße auf.
Der große Thienwiebel aber hatte sich nunmehr rücklings in seinen Stuhl zurückgelehnt und starrte jetzt, die Hände in den Hosentaschen, erhaben oben in die beiden gelben Lichtkleckse, die die Lampen zitternd an die Decke malten.
Denn, was ein armer Mann wie Hamlet ist ... Nichts mehr davon!
Der Rest war Schweigen ...
Endlich war alles wieder abgeräumt. Frau Wachtel, die nicht Skat spielte, hatte sich mit ihrem Seidnen, ihrem Taschentuch und ihrer zweiten Lampe wieder hinten in ihre Küche zurückgerettet, Amalie kauerte wieder auf ihrem Fußbänkchen neben dem Ofen. Sie hatte sich noch nachträglich eine kleine Bratenschmalzstulle geschmiert.
Es war ziemlich kalt im Zimmer. Das Feuer war ausgegangen, und man hatte nichts mehr nachzulegen. Der große Thienwiebel, dessen Schlafrock mit der Zeit aufgehört hatte, skatfähig zu sein, hatte sich statt dessen in die rote Bettdecke eingewickelt.
»Die Luft geht scharf; es ist entsetzlich kalt! Tourner, Horatio!«
»Passez, Nielchen!«
»Dito, Tienchen!«
»Was denn, Schäfchen?«
»Na, wird's bald?«
»Ah so! – Da, Schäfchen!«
»Na, endlich!«
Sie hatte die Zigarette, die ihr der kleine, eifrige Ole gereicht hatte, mit spitzen Fingern angefaßt und zog jetzt ein Gesicht, als ob ihr der Rauch lästig wäre. Sie wußte, daß ihr das ließ! Es hatte auch sofort den Erfolg, daß ihr Dickchen einen Kuß mauste.
»Nein doch! So eine Unverschämtheit!«
Sie hatte ihn unterm Tisch mit dem Knie gestoßen.
»Pique As! Nicht wahr, Wiebelchen?«
»Sehr wohl, schöne Dame! Sehr wohl! Vortrefflich, meiner Treu! Was wäre da zu fürchten? Ich – e – selbst bin – e – hm! – leidlich tugendhaft ...«
Der kleine Fortinbras war jetzt vollständig vergessen.
»Voll Speis' und Trank in seiner Sünden Maienblüte« lag er jetzt wieder »sicher beigepackt« hinten in seiner dunklen Korbecke und starrte nun trübselig drüben in den Zigarrenqualm, der in dicken Schichten um die grüne Glocke wogte. Seit seiner Geburt war er nicht übermäßig oft aus seinem Winkel hervorgeholt worden. Das unerwartete Glück heute hatte ihn ganz sehnsüchtig nach dem Lichte dort gemacht. Der Schoß, der Zuckerkringel, die Löckchen ... er hatte wieder zu quäken angefangen.
Amalie rührte sich nicht. Der Bengel wollte bloß immer genommen sein. Sie hatte schon an einmal genug.
»Coeur Trumpf, Nielchen!«
»Ihr sagtet?«
»Ich sagte: Coeur Trumpf, Nielchen! Coeur Trumpf!«
»Ha, blut'ger kupplerischer Bube! Unmöglich, bei diesem verwünschten Geschrei ein Wort zu verstehn! Wenn du nicht gleich still bist, du infames Balg, dann schlag' ich dich blitzblau wie eine Heidelbeere!«
»Nicht doch! Das kneift ja, Ole! Au!«
»Ach was, Schäfchen! Laß doch!«
Das Sofa hatte in diesem Augenblick genug mit sich selbst zu tun.
Amalie, die auf ihrer kleinen Fußbank schon wieder halb eingenickt war, blinzelte kaum. Der große Thienwiebel war vor einer zweiten Ohrfeige sicher.
Er hatte sich jetzt in seiner roten Bettdecke ergrimmt vor den Korb gestellt und brüllte nun wütend auf das arme, kleine Bündelchen ein.
»Willst du still sein, du – Lausbub!?«
Aber der »Lausbub« war's nicht.
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