Oft, wenn ich gleichgültig bei dem Elende meiner Brüder vorübergehen wollte, dachte ich von ungefähr an die Grube, und eine frische, erwärmende Menschenfreundlichkeit strömte zu meinem Herzen: oft reichte ich die Hand zur Versöhnung, wenn ich mich sonst vielleicht in einem kalten Haß verschlossen hätte. – Ich konnte nachher nie einen Muff von Fuchsfell sehn ohne ein unwillkürliches Wohlwollen zu empfinden: er erregte bei mir ungefähr die Empfindung, die der gute ehrliche Yorick hatte, wenn er seine hörnerne Lorenzodose betrachtete. – Viele seiner Leser haben nachher aus empfindsamer Spaßhaftigkeit eine Lorenzodose geführt, ohne irgend etwas dabei zu empfinden, ja man hat sogar sagen wollen, daß ein Lorenzoorden existiert habe. – Ich habe mich nie mit diesen Spielereien der Empfindsamkeit vertragen können sie setzen gewöhnlich Mangel an wahrer Empfindung voraus; ich wünsche nicht, daß jemand mir zu Ehren einen Orden errichte, dessen Kennzeichen ein Fuchsmuff, oder ein Hasenfell ist.
Aber niemand wird leugnen, daß oft ein unbedeutender Vorfall einen großen Einfluß auf die Wendung hat, die unser Charakter nimmt. – Auf einer meiner Reisen fiel in der Nacht der Wagen um, und es zerbrach etwas, das mich am Fortkommen hinderte. Es war im November und ein pfeifender Wind trieb einen schneidenden Regen durch die Luft; kein Haus, kein Dorf war in der Nähe, der Postillion ritt nach dem nächsten Flecken, um Leute zu holen, die den Wagen wiederherstellen könnten: ich wickelte mich in meinen Mantel ein, so gut es mir möglich war, aber ein empfindlicher Frost bemächtigte sich bald aller meiner Glieder. Mit ungeduldiger Sehnsucht sah ich dem Postillion entgegen, der immer noch nicht zurückkam. Ich ward unwillig, aber ich sah auch bald ein, wie sehr ich unrecht hatte, ich ging auf und ab, um mich etwas zu erwärmen und die Zeit zu verkürzen. Da dachte ich zum ersten Male recht lebhaft an euch Elenden, die ihr in einer armseligen Hütte dem Mangel und dem Froste preisgegeben seid, die ihr in der kalten Novembernacht ungeduldig den Aufgang der Sonne erwartet, und ängstlich die Tage abzählt, in welchen ihr die strengere Kälte fürchtet; die ihr mit einem Schrei des Erschreckens den ersten Schnee wahrnehmt, indes der Reiche schon in Gedanken die bunten Schlitten sieht und das Geklingle der muntern Pferde hört. – Seit jener Nacht fuhr meine Hand jedesmal in die Tasche, ohne daß ich es wußte, wenn ich im Winter einen Armen am Wege sitzen sahe, oder eine Mutter mir begegnete, die an ihrer Brust ihr Kind mit ihren Seufzern und Tränen zu erwärmen schien. – Der Unglückliche versteht den Unglücklichen am besten, und wenn uns Trübsale auch oft nur im Vorbeigehn gestreift haben so ist uns schon dadurch das Geschlecht der Elenden nähergerückt.
Ich bin schon so tief in der Schuld meiner Leser, daß ich dieser Abschweifung wegen gar nicht einmal um Verzeihung bitten mag.
Ich hatte indes gar nicht bemerkt, daß es wirklich Nacht geworden war. Ich spürte große Müdigkeit, und legte mich bequemer, war aber sehr besorgt, daß noch irgendein zahmes oder wildes Tier mir von oben auf den Kopf fallen möchte: ich überließ mich dem gütigen Zufall, lehnte mich an die feuchten Wände meiner engen Wohnung und schlief endlich wirklich ein.
In der Nacht wachte ich oft auf, und hörte dumpf zu mir hinunter das Rauschen des Waldes, ich bog mich in mich selbst zusammen, soviel ich konnte, um nicht zu frieren und schlief weiter.
Ich erwachte, als einzelne Sonnenstrahlen an den Mauern meines Gefängnisses auf und nieder flimmerten, etwas erstarrt stand ich auf und glaubte in einiger Entfernung Menschenstimmen zu hören. Ich rief laut und schoß aus der Öffnung meine Büchse ab, aber ohne allen Erfolg. Meine beiden Freunde erschraken außerordentlich und der furchtsame Hase verkroch sich unter den Bauch des Fuchses.
Bis gegen Mittag wartete ich noch geduldig, als ich wirklich hörte, wie sich Leute der Grube näherten. Es waren Bauern, die nachsehn wollten, was sie gefangen hatten, und nicht wenig erstaunten, neben ihrem Fange auch einen Jäger zu erblicken. Sie schafften mich sogleich mit Stricken aus der Höhle, und nach mir wurden auch meine beiden Gefährten, jeder einzeln, herausgeholt. – Ich belohnte die Landleute reichlich für den Dienst, den sie mir geleistet hatten, doch unter der Bedingung, daß sie mir die beiden Tiere überlassen möchten. Mit dem herzlichsten Wohlwollen ließ ich nun den Hasen davonspringen, und als dieser eine ziemliche Strecke gelaufen war, ebenso den Fuchs, der sich in der Ferne noch ein paarmal sehr verständig nach mir umsahe, als wenn er mir für seine Freiheit danken wollte. – Die Bauern lachten über meine Narrheit, und brachten mich auf einen Weg, der mich aus dem Walde in ein benachbartes Dorf führen sollte; wir nahmen Abschied und jedermann von uns ging vergnügt seine Straße.
Eilftes Kapitel
Rückerinnerungen
Als ich kaum eine halbe Stunde durch den Wald gegangen war, trat ich ins freie Feld und erwachte wie aus einem Traum. Es war dieselbe Flur, in der ich meine Kindheit zugebracht hatte, ich sah schon das Dörfchen in der Ferne vor mir liegen. – Alle vorhergehenden Begebenheiten hatten mich zu einer Art von Schwärmerei gestimmt, und mit einem freudenvollen Schrei stand ich nun mit untergeschlagenen Armen still, und rief alle Erinnerungen aus meiner Kindheit in meine Seele zurück. Jeder Baum war mir fast noch bekannt, ich wußte jetzt recht gut, daß ich selbst diesen Teil des Waldes oft durchstrichen hatte; ich sah in der Ferne die blauen Berge liegen, hinter denen in der Kindheit alle meine Wünsche und Hoffnungen gewohnt hatten. Überall, wohin mein Auge sich nur wendete, begegnete mir eine angenehme Erinnerung und grüßte mich so zutraulich, wie ein Freund, der uns lange nicht gesehen hat. Dort stand die Windmühle vor mir, auf der ich so oft mit den Kindern des Müllers gespielt hatte, ich sahe durch die dichten Gebüsche den Fluß im Schein der Sonne flimmern, der mir tausendmal zum Baden gedient. – Ich stand lange und sann in dieser Heimat meiner Jugend, meinem bisherigen Leben nach: so wenige Jahre auch verflossen waren, so wenig Abenteuer ich auch erfahren hatte, so war mein Sinn doch durch ein Leiden geprüft, das mein Herz zerrissen hatte; ich hatte doch unterdes viele Resultate über mein Herz gesammelt, und den Schlüssel zu meinem innersten Selbst gefunden: manches, was mir sonst an mir groß und ehrwürdig erschienen war, kam mir nun wie Dunst und nichtiger Nebeldampf vor: ich war mit mir selber über hundert Erscheinungen in meinem Herzen einig die ich sonst als fremde Wesen in einer ehrfurchtsvollen Entfernung betrachtet hatte. Von diesem Felde war ich ausgegangen, in die Welt hinein, und ich kam jetzt zurück in meine Heimat, klüger, aber bei weitem unglücklicher.
Wie mit dem ehemaligen Kindersinn schritt ich zwischen die wohlbekannten Äcker hindurch: jede Blume im Grase schien mir noch dieselbe, die mich damals so freundlich angeblickt hatte; ich verlor mich in einem süßen wonnevollen Rausch.
Oh, seid mir gegrüßt, ihr holden Erinnerungen der frohen Kinderzeit, wenn ihr aus den grünen Wipfeln der Bäume herabsteigt und mir jenen paradiesischen Traum wieder aufschließt, aus dem man als Knabe so ungern erwacht. Wie holdselig winkt uns durch einen rosenroten Schleier die Welt und die Zukunft an! Mit schuldlosem Herzen, ohne Harm und Neid, ohne Haß und Groll, wandeln wir dahin, mit zartem Wohlwollen den Busen ganz ausgefüllt: wir taumeln durch den goldnen Schein des Morgens fort, geben jedermann, der uns begegnet, einen frohen Händedruck, und ahnden nirgend Tücke und Bosheit, weil wir mit unserm eignen Sinn vertraut zu sein glauben. – Glückseliges Alter, in welchem der Mensch keine andern Wünsche und Hoffnungen kennt, als die dicht vor seinen Füßen blühen und die er mit seinen kleinen Armen abreichen kann: in jenen Jahren ist der Mensch glücklich und gut, sein späteres Leben ist ein unaufhörlicher, ohnmächtiger Kampf gegen Fehler und Schwachheiten, ein Rennen nach Wünschen und Hoffnungen, das ihm den Atem raubt und ihn die Freuden nicht bemerken läßt, denen er vorübergeflohen ist. – Sei mir gegrüßt, du holde Zeit! Schon die Erinnerung jener goldnen Frühlingstage, wenn sie durch unsre Seele zieht, macht uns froher und besser.
Ich kam nun dicht vor das Dorf. Fast alles war noch so, wie damals, als ich es verlassen hatte: nur wenige neue Hütten waren angebaut, eine ganz zerfallen.
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