Jetzt sahe ich das Dach unsers Hauses herüberragen; ich lenkte um die Ecke, und stand nun vor der Wohnung, wo ich erzogen war. Die große Linde vor der Türe erinnerte mich an alle die schauerlichen Gespenstergeschichten, die man mir hier am Abend erzählet hatte, und an den Pater Bonifaz, der mich so oft an dieser Stelle zur Säule des sinkenden Christentums hatte einweihen wollen. Ich kam in den Hof, alles stand und lag umher, wie gewöhnlich, in der Scheune hört ich dreschen, nur ein unbekannter Spitz bellte mir unhöflich entgegen, und strebte, sich von der Kette loszureißen. Ich bedauerte im stillen den alten getreuen Phylax, öffnete die kleine Türe, und trat in die niedrige Wohnstube. Ich hatte sie ganz anders, und besonders viel geräumiger erwartet: wie im Traum ging ich auf die Mutter Marthe zu und schloß sie in meine Arme. Sie war erstaunt, kannte mich nicht und wußte gar nicht, was sie sagen sollte. Ich gab mich zu erkennen und bat sie um Verzeihung, daß ich mich nicht schon früher um sie und ihre Kinder bekümmert hätte. Ihre Tochter kam nach Hause und erstaunte nicht wenig, den kleinen Peter als einen großen Jäger wiederzufinden. Auch der Vater kam mit seinem Sohn von der Feldarbeit zurück und die Freude war nun allgemein. Ich mußte ihnen meine bisherige Lebensgeschichte erzählen, man konnte mich nicht genug von allen Seiten betrachten, man bewunderte meine Größe und noch mehr, daß ich designierter Burgemeister sei, man freute sich über mein gesundes Aussehn und noch mehr darüber, daß ich sie nicht vergessen hätte, da sie mich von Jugend auf so vorzüglich geliebt hatten. Man erzählte mir unordentlich durcheinander, daß Pater Bonifaz und Phylax gestorben wären, und daß man alle Tage fürchte, der Turm ihrer Kirche würde einfallen. Die guten Leute schienen durch meine Anwesenheit ebenso berauscht, als ich es war.
Wir setzten uns zu Tische: ein kleines ländliches Mahl ward aufgetragen und zwar noch in demselben Geschirre, aus welchem man mich großgefüttert hatte; ein einziger Teller war zerbrochen, und statt seiner ein neuer angeschafft; man wollte mir diesen zu meiner Ehre vorsetzen, ich griff aber nach einem alten, dessen rotgeschriebenen Spruch ich noch auswendig wußte. – Noch nie hatte mir ein Mittagsmahl so gut geschmeckt; eine allgemeine Heiterkeit machte, daß uns die Stunden wie Minuten verschwanden.
Der Vater blieb mir zu Ehren länger als gewöhnlich, er ging nur nach dem Acker, als ich ihm versprochen hatte, diese Nacht in seiner Wohnung zuzubringen. Er umarmte mich noch einigemal, dann verließ er mich: sein Sohn begleitete ihn, die Tochter besorgte die häusliche Wirtschaft.
Kaum sah ich mich mit der geschwätzigen Mutter Marthe allein, als mir zum erstenmal eine Frage einfiel, an die ich noch bisher gar nicht gedacht hatte. – »Wir sind allein, liebe Mutter«, fing ich an, »Ihr habt just, wie ich sehe, einige Zeit übrig; – sagt mir, wer bin ich eigentlich, da ich nicht Euer Sohn bin?«
»Lieber Lebrecht«, antwortete sie mir mit ihrer geschwätzigen Art, »ach, darüber ließe sich gar vielerlei sprechen: darüber ließen sich gar wunderliche Geschichten erzählen. Sonst durft ich nicht, jetzt ist es mir schon eher erlaubt, da du unterdessen, liebes Kind, zu Verstande gekommen bist.«
»Nun so sprecht, so erzählt denn die wunderlichen Geschichten«, fiel ich ungeduldig ein: »ich bin endlich neugierig geworden, zu erfahren, wer meine Eltern sind.«
Die Sonne schien auf die Fenster der Stube, ich führte Marthe aus dem schwülen Zimmer unter die kühlen Zweige der Linde; ich wiederholte meine Bitte, Marthe fing ihre Erzählung an, und ich erfuhr, was der Leser auch erfahren wird, wenn er sich die Mühe gibt, das folgende Kapitel zu lesen.
Zwölftes Kapitel
Episode – Der neue Siegwart, eine Klostergeschichte
Gleich beim Anfang dieses Kapitels stößt mir eine Bedenklichkeit auf, die nicht so klein ist, als sie vielleicht dem Leser scheinen mag. Wie bekannt, erzählt mir Mutter Marthe eine Geschichte, um mir zu sagen, wer meine Eltern sind; nun entsteht aber die große Frage, wie ich diese Erzählung vortragen soll? – Soll ich meiner guten alten Pflegmutter, die kein größer Glück kannte, als etwas zu erzählen, das Wort aus dem Munde nehmen und in meiner eigenen Person sprechen? Das wäre wahrlich eine große Undankbarkeit von meiner Seite, das hieße ihre zärtliche Sorgfalt für mich in meiner Jugend, ihre Freude, als sie mich jetzt wiedersah, sehr schlecht vergelten. Wenn ich sie redend einführe, wird meine Erzählung auch überdies noch dramatischer die Darstellung wird lebendiger und für den Leser um so interessanter. – Ich war so eben schon entschlossen, die Erzählung anzufangen, als mir wieder meine alten Bedenklichkeiten einfielen. Mutter Marthe erzählte nämlich so weitläuftig, daß ihre Geschichte allein größer sein würde, als der ganze erste Teil dieses Werks. Das wäre aber eben kein groß Unglück gewesen, denn der Weitschweifigkeit sind die Leser schon an den Geschichten die recht dramatisch sein sollen, gewöhnt; auch das schlechte und unrichtige Deutsch würde mich nicht abhalten, ihre Erzählung wörtlich nachzuschreiben, denn viele Leser würden die Unrichtigkeiten gar nicht bemerken und bei den andern könnten sie immer noch für treue Nachahmungen der Natur gelten; aber man würde schwerlich aus meiner guten alten Pflegemutter recht klug werden können, und obgleich meine Leser auch daran vielleicht durch viele der neusten Bücher gewöhnt sind, so lieb ich doch die Deutlichkeit gar zu sehr als daß ich ihr nicht ohne Bedenken alle übrigen Schönheiten aufopfern sollte.
Ich erzähle also im Namen der Mutter Marthe:
Der Herr von Bührau hatte bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr sehr fromm und eingezogen gelebt, als er von ungefähr auf den Gedanken kam, sich zu verheiraten. Es war leicht vorauszusehn, daß er als Ehemann nichts von seiner Frömmigkeit verlieren würde, denn seine Geliebte, das Fräulein Dölling, war noch frömmer, als er. Sie sprachen oft zusammen, wie sie sich in ihrem künftigen Ehestande die Schriften des Alten und Neuen Testamentes erklären wollten; ob sie das Hohelied zu den apokryphischen Büchern rechneten, kann ich nicht sagen; genug, sie verlobten sich und der Hochzeitstag ward festgesetzt.
Alles ward zu diesem feierlichen Tage vorbereitet, die Gäste erschienen, der Tag selbst brach an, sie wurden getraut, man gratulierte, sie weinten fromme Tränen und die Gäste fingen an, sich im Rheinwein zu betrinken, als sie sich in eine stille einsame Laube des Gartens zurückzogen, um noch einmal miteinander zu überlegen, welche schwere Pflichten sie beide in ihrem jetzigen Stande zu tragen hätten. Sie rechneten sich die Liebe und die Geduld vor, die alle Eheleute, vermöge ihres Amtes, gegeneinander und miteinander haben müssen: die Sorgfalt für die Erziehung ihrer Kinder; kurz, sie machten sich mit allen den Pflichten Langeweile, die die meisten Verheirateten schon im ersten Vierteljahr der Ehe vergessen. – In der Nähe des Gartens war eine Kirche, und die Orgel schallte so feierlich in ihr frommes Ohr, daß sie dem Drange nicht widerstehn konnten, dem Gottesdienste beizuwohnen. Sie schlichen durch eine Hintertür aus dem Garten in die Kirche hinein. Ein begeisterter Kapuziner predigte gerade über den bekannten Text des Paulus: Es ist besser freien, denn Brunst leiden. – Er gab dem Apostel insoweit recht, daß er seinen Satz nicht geradezu für Unwahrheit erklärte; aber nach und nach erhob er den Stand der Unverehlichten mit so großen Lobeserhebungen, wie sie Gott und seinem Throne näher ständen, wie sie einst reinere Freuden schmecken würden, von denen die übrigen Menschen keinen Begriff hätten, daß Weiber und Mädchen häufige Tränen der Andacht vergossen. – Aber niemand ward von der Predigt so hingerissen, als die beiden Neuvermählten: sie gingen wieder mit frommen Vorsätzen nach Hause. Die Gäste hatten sie nicht vermißt, oder die sie vermißt hatten, mochten ihre Abwesenheit vielleicht einer ganz verschiedenen Ursache zuschreiben.
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