Der eine mit dem
schwarzen Barte, dem silbernen Federhelm und dem goldgestickten
Mantel über dem roten Unterkleide war der Pfalzgraf Siegfried;
er wollte gegen die heidnischen Mohren in den Krieg reiten und
befahl seinem jungen Hausmeister Golo, der in blauem silbergesticktem
Wamse neben ihm stand, zum Schutze der Pfalzgräfin Genoveva
in der Burg zurückzubleiben. Der treulose Golo aber tat gewaltig
wild, daß er seinen guten Herrn so allein in das grimme
Schwerterspiel sollte reiten lassen. Sie drehten bei diesen Wechselreden
die Köpfe hin und her und fochten heftig und ruckweise mit
den Armen. - Da tönten kleine langgezogene Trompetentöne
von draußen hinter der Zugbrücke, und zugleich kam
auch die schöne Genoveva in himmelblauem Schleppkleide hinter
dem Turm hervorgestürzt und schlug beide Arme über des
Gemahls Schultern: »Oh, mein herzallerliebster Siegfried,
wenn dich die grausamen Heiden nur nicht massakrieren!« Aber
es half ihr nichts; noch einmal ertönten die Trompeten, und
der Graf schritt steif und würdevoll über die Zugbrücke
aus dem Hofe; man hörte deutlich draußen den Abzug
des gewappneten Trupps. Der böse Golo war jetzt Herr der
Burg. -
Und nun spielte das Stück sich weiter, wie es in deinem Lesebuch
gedruckt steht. - Ich war auf meiner Bank ganz wie verzaubert;
diese seltsamen Bewegungen, diese feinen oder schnurrenden Puppenstimmchen,
die denn doch wirklich aus ihrem Munde kamen - es war ein unheimliches
Leben in diesen kleinen Figuren, das gleichwohl meine Augen wie
magnetisch auf sich zog.
Im zweiten Aufzuge aber sollte es noch besser kommen. - Da war
unter den Dienern auf der Burg einer im gelben Nankinganzug, der
hieß Kasperl. Wenn dieser Bursche nicht lebendig war, so
war noch niemals etwas lebendig gewesen; er machte die ungeheuersten
Witze, so daß der ganze Saal vor Lachen bebte; in seiner
Nase, die so groß wie eine Wurst war, mußte er jedenfalls
ein Gelenk haben; denn wenn er so sein dumm-pfiffiges Lachen herausschüttelte,
so schlenkerte der Nasenzipfel hin und her, als wenn auch er sich
vor Lustigkeit nicht zu lassen wüßte; dabei riß
der Kerl seinen großen Mund auf und knackte, wie eine alte
Eule, mit den Kinnbacksknochen. »Pardauz!« schrie es;
so kam er immer auf die Bühne gesprungen; dann stellte er
sich hin und sprach erst bloß mit seinem großen Daumen;
den konnte er so ausdrucksvoll hin und wider drehen, daß
es ordentlich ging wie »Hier nix und da nix! Kriegst du nix,
so hast du nix!« Und dann sein Schielen; - das war so verführerisch,
daß im Augenblick dem ganzen Publikum die Augen verquer
im Kopfe standen. Ich war ganz vernarrt in den lieben Kerl!
Endlich war das Spiel zu Ende, und ich saß wieder zu Hause
in unserer Wohnstube und verzehrte schweigend das Aufgebratene,
das meine gute Mutter mir warm gestellt hatte. Mein Vater saß
im Lehnstuhl und rauchte seine Abendpfeife. »Nun, Junge«,
rief er, »waren sie lebendig?«
»Ich weiß nicht, Vater«, sagte ich und arbeitete
weiter in meiner Schüssel; mir war noch ganz verwirrt zu
Sinne.
Er sah mir eine Weile mit seinem klugen Lächeln zu. »Höre,
Paul«, sagte er dann, »du darfst nicht zu oft in diesen
Puppenkasten; die Dinger könnten dir am Ende in die Schule
nachlaufen.«
Mein Vater hatte nicht unrecht. Die Algebraaufgaben gerieten mir
in den beiden nächsten Tagen so mäßig, daß
der Rechenmeister mich von meinem ersten Platz herabzusetzen drohte.
- Wenn ich in meinem Kopfe rechnen wollte: »a + b gleich
x = c«, so hörte ich statt dessen vor meinen Ohren die
feine Vogelstimme der schönen Genoveva: »Ach, mein herzallerliebster
Siegfried, wenn dich die bösen Heiden nur nicht massakrieren!«
Einmal - aber es hat niemand gesehen - schrieb ich sogar
»x + Genoveva« auf die Tafel. - Des Nachts in meiner Schlafkammer
rief es einmal ganz laut »Pardauz«, und mit einem Satz
kam der liebe Kasperl in seinem Nankinganzug zu mir ins Bett gesprungen,
stemmte seine Arme zu beiden Seiten meines Kopfes in das Kissen
und rief, grinsend auf mich herabnickend: »Ach, du liebs
Brüderl! Ach, du hertausig liebs Brüderl!« Dabei
hackte er mir mit seiner langen roten Nase in die meine, daß
ich davon erwachte. Da sah ich denn freilich, daß es nur
ein Traum gewesen war.
Ich verschloß das alles in meinem Herzen und wagte zu Hause
kaum den Mund aufzutun von der Puppenkomödie. Als aber am
nächsten Sonntag der Ausrufer wieder durch die Straßen
ging, an sein Becken schlug und laut verkündigte: »Heute
abend auf dem Schützenhof: Doktor Fausts Höllenfahrt,
Puppenspiel in vier Aufzügen!« - da war es doch nicht
länger auszuhalten. Wie die Katze um den heißen Brei,
so schlich ich um meinen Vater herum, und endlich hatte er meinen
stummen Blick verstanden. - »Pole«, sagte er, »es
könnte dir ein Tropfen Blut vom Herzen gehen; vielleicht
ist's die beste Kur, dich einmal gründlich satt zu machen.«
Damit langte er in die Westentasche und gab mir einen Doppeltschilling.
Ich rannte sofort aus dem Hause; erst auf der Straße wurde
es mir klar, daß ja noch acht lange Stunden bis zum Anfang
der Komödie abzuleben waren. So lief ich denn hinter den
Gärten auf den Bürgersteig. Als ich an den offenen Grasgarten
des Schützenhofs gekommen war, zog es mich unwillkürlich
hinein; vielleicht, daß gar einige Puppen dort oben aus
den Fenstern guckten; denn die Bühne lag ja an der Rückseite
des Hauses. Aber ich mußte dann erst durch den oberen Teil
des Gartens, der mit Linden- und Kastanienbäumen dicht bestanden
war. Mir wurde etwas zag zumute; ich wagte doch nicht weiter vorzudringen.
Plötzlich erhielt ich von einem großen, hier angepflockten
Ziegenbock einen Stoß in den Rücken, daß ich
um zwanzig Schritte weiter flog. Das half; als ich mich umsah,
stand ich schon unter den Bäumen.
Es war ein trüber Herbsttag; einzelne gelbe Blätter
sanken schon zur Erde; über mir in der Luft schrien ein paar
Strandvögel, die ans Haff hinausflogen; kein Mensch war zu
sehen noch zu hören. Langsam schritt ich durch das Unkraut,
das auf den Steigen wucherte, bis ich einen schmalen Steinhof
erreicht hatte, der den Garten von dem Hause trennte. - Richtig!
Dort von oben schauten zwei große Fenster in den Hof herab;
aber hinter den kleinen in Blei gefaßten Scheiben war es
schwarz und leer, keine Puppe war zu sehen. Ich stand eine Weile,
mir wurde ganz unheimlich in der mich rings umgebenden Stille.
Da sah ich, wie unten die schwere Hoftür von innen eine Handbreit
geöffnet wurde, und zugleich lugte auch ein schwarzes Köpfchen
daraus hervor.
»Lisei!« rief ich.
Sie sah mich groß mit ihren dunklen Augen an. »B'hüt
Gott!« sagte sie, »hab i doch nit gewußt, was
da außa rumkraxln tät! Wo kommst denn du daher?«
»Ich? - Ich geh spazieren, Lisei! - Aber sag mir, spielt
ihr denn schon jetzt Komödie?«
Sie schüttelte lachend den Kopf.
»Aber, was machst du denn hier?« fragte ich weiter,
indem ich über den Steinhof zu ihr trat.
»I wart auf den Vater«, sagte sie, »er ist ins
Quartier, um Band und Nagel zu holen, er macht's halt firti für
heut abend.«
»Bist du denn ganz allein hier, Lisei?«
- »O nei; du bist ja aa no da!«
»Ich meine«, sagte ich, »ob nicht deine Mutter
oben auf dem Saal ist?«
Nein, die Mutter saß in der Herberge und besserte die Puppenkleider
aus; das Lisei war hier ganz allein.
»Hör«, begann ich wieder, »du könntest
mir einen Gefallen tun; es ist unter eueren Puppen einer, der
heißt Kasperl; den möcht ich gar zu gern einmal in
der Nähe sehen.«
»Den Wurstl meinst?« sagte Lisei und schien sich eine
Weile zu bedenken. »Nu, es ging scho; aber g'schwind mußt
sein, eh denn der Vater wieder da ist!«
Mit diesen Worten waren wir schon ins Haus getreten und liefen
eilig die steile Wendeltreppe hinauf.
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