- Es war fast dunkel in
dem großen Saale; denn die Fenster, welche sämtlich
nach dem Hofe hinaus lagen, waren von der Bühne verdeckt;
nur einzelne Lichtstreifen fielen durch die Spalten des Vorhangs.
»Komm!« sagte Lisei und hob seitwärts an der Wand
die dort aus einem Teppich bestehende Verkleidung in die Höhe;
wir schlüpften hindurch, und da stand ich in dem Wundertempel.
- Aber von der Rückseite betrachtet und hier in der Tageshelle
sah er ziemlich kläglich aus; ein Gerüst aus Latten
und Brettern, worüber einige buntbekleckste Leinwandstücke
hingen; das war der Schauplatz, auf welchem das Leben der heiligen
Genoveva so täuschend an mir vorübergegangen war.
Doch ich hatte mich zu früh beklagt; dort, an einem Eisendrahte,
der von einer Kulisse nach der Wand hinübergespannt war,
sah ich zwei der wunderbaren Puppen schweben; aber sie hingen
mit dem Rücken gegen mich, so daß ich sie nicht erkennen
konnte.
»Wo sind die andern, Lisei?« fragte ich; denn ich hätte
gern die ganze Gesellschaft auf einmal mir besehen.
»Hier im Kast'l«, sagte Lisei und klopfte mit ihrer
kleinen Faust auf eine im Winkel stehende Kiste; »die zwei
da sind schon zug'richt; aber geh nur her dazu und schau's dir
a; er is scho dabei, dei Freund, der Kasperl!«
Und wirklich, er war es selber. »Spielt denn der heute abend
auch wieder mit?« fragte ich.
»Freili, der is allimal dabei!«
Mit untergeschlagenen Armen stand ich und betrachtete meinen lieben
lustigen Allerweltskerl. Da baumelte er, an sieben Schnüren
aufgehängt; sein Kopf war vornübergesunken, daß
seine großen Augen auf den Fußboden stierten und ihm
die rote Nase wie ein breiter Schnabel auf der Brust lag. Kasperle,
Kasperle, sagte ich bei mir selber,
Wie hängst du da elendiglich.
Da antwortete es ebenso: Wart nur, liebs Brüderl, wart nur
bis heut abend! - War das auch nur so in meinen Gedanken, oder
hatte Kasperl selbst zu mir gesprochen? -
Ich sah mich um. Das Lisei war fort; sie war wohl vor die Haustür,
um die Rückkehr ihres Vaters zu überwachen. - Da hörte
ich sie eben noch von dem Ausgang des Saales rufen: »Daß
d' mir aber nit an die Puppen rührst!« - - Ja - nun
konnte ich es aber doch nicht lassen. Leise stieg ich auf eine
neben mir stehende Bank und begann erst an der einen, dann an
der andern Schnur zu ziehen; die Kinnladen fingen an zu klappen,
die Arme hoben sich, und jetzt fing auch der wunderbare Daumen
an, ruckweise hin und her zu schießen. Die Sache machte
gar keine Schwierigkeit; ich hatte mir die Puppenspielerei doch
kaum so leicht gedacht. - Aber die Arme bewegten sich nur nach
vorn und hinten aus; und es war doch gewiß, daß Kasperle
sie in dem neulichen Stück auch seitwärts ausgestreckt,
ja, daß er sie sogar über dem Kopf zusammengeschlagen
hatte! Ich zog an allen Drähten, ich versuchte mit der Hand
die Arme abzubiegen; aber es wollte nicht gelingen. Auf einmal
tat es einen leisen Krach im Innern der Figur.
Halt! dachte
ich, Hand vom Brett! Da hättst
du können Unheil anrichten!
Leise stieg ich wieder von meiner Bank herab, und zugleich hörte
ich auch Lisei von außen in den Saal treten.
»G'schwind, g'schwind!« rief sie und zog mich durch
das Dunkel an die Wendeltreppe hinaus; »'s is eigentli nit
recht«, fuhr sie fort, »daß i di eilass'n hab;
aber, gel, du hast doch dei Gaudi g'habt!«
Ich dachte an den leisen Krach von vorhin. Ach, es wird ja nichts
gewesen sein! Mit dieser Selbsttröstung lief ich die Treppe
hinab und durch die Hintertür ins Freie.
Soviel stand fest, der Kaspar war doch nur eine richtige Holzpuppe;
aber das Lisei - was das für eine allerliebste Sprache führte!
und wie freundlich sie mich gleich zu den Puppen mit hinaufgenommen
hatte! - Freilich, und sie hatte es ja auch selbst gesagt, daß
sie es so heimlich vor ihrem Vater getan, das war nicht völlig
in der Ordnung. Unlieb - zu meiner Schande muß ich's gestehen
- war diese Heimlichkeit mir grade nicht; im Gegenteil, die Sache
bekam für mich dadurch noch einen würzigen Beigeschmack,
und es muß ein recht selbstgefälliges Lächeln
auf meinem Gesicht gestanden haben, als ich durch die Linden-
und Kastanienbäume des Gartens wieder nach dem Bürgersteig
hinabschlenderte.
Allein zwischen solchen schmeichelnden Gedanken hörte ich
von Zeit zu Zeit vor meinem inneren Ohre immer jenen leisen Krach
im Körper der Puppe; was ich auch vornahm, den ganzen Tag
über konnte ich diesen jetzt aus meiner eigenen Seele herauftönenden
unbequemen Laut nicht zum Schweigen bringen.
Es hatte sieben Uhr geschlagen; im Schützenhofe war heute,
am Sonntagabend, alles besetzt; ich stand diesmal hinten, fünf
Schuh hoch über dem Fußboden, auf dem Doppeltschillingsplatze.
Die Talglichter brannten in den Blechlampetten, der Stadtmusikus
und seine Gesellen fiedelten; der Vorhang rollte in die Höhe.
Ein hochgewölbtes gotisches Zimmer zeigte sich. Vor einem
aufgeschlagenen Folianten saß im langen schwarzen Talar
der Doktor Faust und klagte bitter, daß ihm all seine Gelehrsamkeit
so wenig einbringe; keinen heilen Rock habe er mehr am Leibe,
und vor Schulden wisse er sich nicht zu lassen; so wolle er denn
jetzo mit der Hölle sich verbinden. - »Wer ruft nach
mir?« ertönte zu seiner Linken eine furchtbare Stimme
von der Wölbung des Gemaches herab. - »Faust, Faust,
folge nicht!« kam eine andere, feine Stimme von der Rechten.
- Aber Faust verschwor sich den höllischen Gewalten. - »Weh,
weh deiner armen Seele!« Wie ein seufzender Windeshauch klang
es von der Stimme des Engels; von der Linken schallte eine gellende
Lache durchs Gemach. - - Da klopfte es an die Tür. »Verzeihung,
Euere Magnifizenz?« Fausts Famulus Wagner war eingetreten.
Er bat, ihm für die grobe Hausarbeit die Annahme eines Gehülfen
zu gestatten, damit er sich besser aufs Studieren legen könne.
»Es hat sich«, sagte er, »ein junger Mann bei mir
gemeldet, welcher Kasperl heißt und gar fürtreffliche
Qualitäten zu besitzen scheint.« Faust nickte gnädig
mit dem Kopfe und sagte. »Sehr wohl, lieber Wagner, diese
Bitte sei Euch gewährt.« Dann gingen beide miteinander
fort. - -
»Pardauz!« rief es; und da war er. Mit einem Satz kam
er auf die Bühne gesprungen, daß ihm das Felleisen
auf dem Buckel hüpfte.
- - Gott sei gelobt!
dachte ich; er ist noch ganz gesund; er
springt noch ebenso wie vorigen Sonntag in der Burg der schönen
Genoveva! Und seltsam, sosehr ich ihn am Vormittage in meinen
Gedanken nur für eine schmähliche Holzpuppe erklärt
hatte, mit seinem ersten Worte war der ganze Zauber wieder da.
Emsig spazierte er im Zimmer auf und ab. »Wenn mich jetzt
mein Vater Papa sehen tät«, rief er, »der würd
sich was Rechts freuen. Immer pflegt er zu sagen: Kasperl, mach,
daß du dein Sach in Schwung bringst! - Oh, jetzund hab
ich's in Schwung; denn ich kann mein Sach haushoch werfen!«
- Damit machte er Miene, sein Felleisen in die Höhe zu schleudern;
und es flog auch wirklich, da es am Draht gezogen wurde, bis an
die Deckenwölbung hinauf; aber - Kasperls Arme waren an seinem
Leibe klebengeblieben; es ruckte und ruckte, aber sie kamen um
keine Handbreit in die Höhe.
Kasperl sprach und tat nichts weiter. - Hinter der Bühne
entstand eine Unruhe, man hörte leise, aber heftig sprechen,
der Fortgang des Stückes war augenscheinlich unterbrochen.
Mir stand das Herz still; da hatten wir die Bescherung! Ich wäre
gern fortgelaufen, aber ich schämte mich. Und wenn gar dem
Lisei meinetwegen etwas geschähe!
Da begann Kasperl auf der Bühne plötzlich ein klägliches
Geheule, wobei ihm Kopf und Arme schlaff herunterhingen, und der
Famulus Wagner erschien wieder und fragte ihn, warum er denn so
lamentiere.
»Ach, mei Zahnerl, mei Zahnerl!« schrie Kasperl.
»Guter Freund«, sagte Wagner, »so laß Er
sich einmal in das Maul sehen!« - Als er ihn hierauf bei
der großen Nase packte und ihm zwischen die Kinnladen hineinschaute,
trat auch der Doktor Faust wieder in das Zimmer. - »Verzeihen
Euere Magnifizenz«, sagte Wagner, »ich werde diesen
jungen Mann in meinem Dienst nicht gebrauchen können; er
muß sofort in das Lazarett geschafft werden!«
»Is das a Wirtshaus?« fragte Kasperle.
»Nein, guter Freund«, erwiderte Wagner, »das ist
ein Schlachthaus. Man wird Ihm dort einen Weisheitszahn aus der
Haut schneiden, und dann wird er seiner Schmerzen ledig sein.«
»Ach, du liebs Hergottl«, jammerte Kasperl, »muß
mi arms Viecherl so ein Unglück treffen! Ein Weisheitszahnerl,
sagt Ihr, Herr Famulus? Das hat noch keiner in der Famili gehabt!
Da geht's wohl auch mit meiner Kasperlschaft zu End?«
»Allerdings, mein Freund«, sagte Wagner; »eines
Dieners mit Weisheitszähnen bin ich baß entraten; die
Dinger sind nur für uns gelehrte Leute. Aber Er hat ja noch
einen Bruderssohn, der sich auch bei mir zum Dienst gemeldet hat.
Vielleicht«, und er wandte sich gegen den Doktor Faust, »erlauben
Euere Magnifizenz!«
Der Doktor Faust machte eine würdige Drehung mit dem Kopfe.
»Tut, was Euch beliebt, mein lieber Wagner«, sagte er;
»aber stört mich nicht weiter mit Eueren Lappalien in
meinem Studium der Magie!«
- - »Heere, mei Gutester«, sagte ein Schneidergesell,
der vor mir auf der Brüstung lehnte, zu seinem Nachbar, »das
geheert ja nicht zum Stück, ich kenn's, ich hab es vor ä
Weilchen erst in Seifersdorf gesehn.« - Der andere aber sagte
nur: »Halt's Maul, Leipziger!« und gab ihm einen Rippenstoß.
- - Auf der Bühne war indessen Kasperle, der zweite, aufgetreten.
Er hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit seinem kranken
Onkel, auch sprach er ganz genau wie dieser; nur fehlte ihm der
bewegliche Daumen, und in seiner großen Nase schien er kein
Gelenk zu haben.
Mir war ein Stein vom Herzen gefallen, als das Stück nun
ruhig weiterspielte, und bald hatte ich alles um mich her vergessen.
Der teuflische Mephistopheles erschien in einem feuerfarbenen
Mantel, das Hörnchen vor der Stirn, und Faust unterzeichnete
mit seinem Blute den höllischen Vertrag:
»Vierundzwanzig Jahre sollst du mir dienen; dann will ich
dein sein mit Leib und Seele.«
Hierauf fuhren beide in des Teufels Zaubermantel durch die Luft
davon. Für Kasperle kam eine ungeheuere Kröte mit Fledermausflügeln
aus der Luft herab. »Auf dem höllischen Sperling soll
ich nach Parma reiten?« rief er, und als das Ding wackelnd
mit dem Kopfe nickte, stieg er auf und flog den beiden nach.
- - Ich hatte mich ganz hinten an die Wand gestellt, wo ich besser
über alle die Köpfe vor mir hinwegsehen konnte.
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