Und
jetzt rollte der Vorhang zum letzten Aufzug in die Höhe.
Endlich ist die Frist verstrichen. Faust und Kasper sind beide
wieder in ihrer Vaterstadt. Kasper ist Nachtwächter geworden;
er geht durch die dunkeln Straßen und ruft die Stunden ab:
Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen,
Meine Frau hat mich geschlagen;
Hüt't euch vor dem Weiberrock!
Zwölf ist der Klock! Zwölf ist der Klock!
Von fern hört man eine Glocke Mitternacht schlagen. Da wankt
Faust auf die Bühne; er versucht zu beten, aber nur Heulen
und Zähneklappern tönt aus seinem Halse. Von oben ruft
eine Donnerstimme:
Fauste, Fauste, in aeternum damnatus es!
Eben fuhren im Feuerregen drei schwarzhaarige Teufel herab, um
sich des Armen zu bemächtigen, da fühlte ich eins der
Bretter zu meinen Füßen sich verschieben. Als ich mich
bückte, um es zurechtzubringen, glaubte ich aus dem dunkeln
Raume unter mir ein Geräusch zu hören; ich horchte näher
hin; es klang wie das Schluchzen einer Kinderstimme. -
Lisei!
dachte ich wenn es Lisei
wäre! Wie ein Stein fiel meine
ganze Untat mir wieder aufs Gewissen; was kümmerte mich jetzt
der Doktor Faust und seine Höllenfahrt!
Unter heftigem Herzklopfen drängte ich mich durch die Zuschauer
und ließ mich seitwärts an dem Brettergerüst herabgleiten.
Rasch schlüpfte ich in den darunter befindlichen Raum, in
welchem ich an der Wand entlang ganz aufrecht gehen konnte; aber
es war fast dunkel, so daß ich mich an den überall
untergestellten Latten und Balken stieß. »Lisei!«
rief ich. Das Schluchzen, das ich eben noch gehört hatte,
wurde plötzlich still; aber dort in dem tiefsten Winkel sah
ich etwas sich bewegen. Ich tastete mich weiter bis an das Ende
des Raumes, und - da saß sie, zusammengekauert, das Köpfchen
in den Schoß gedrückt.
Ich zupfte sie am Kleide. »Lisei!« sagte ich leise,
»bist du es? Was machst du hier?«
Sie antwortete nicht, sondern begann wieder vor sich hin zu schluchzen.
»Lisei«, fragte ich wieder, »was fehlt dir? So
sprich doch nur ein einziges Wort!«
Sie hob den Kopf ein wenig. »Was soll i da red'n!« sagte
sie, »Du weißt's ja von selber, daß du den Wurstl
hast verdreht.«
»Ja, Lisei«, antwortete ich kleinlaut; »ich glaub
es selber, daß ich das getan habe.«
- »Ja, du! - Und i hab dir's doch g'sagt!«
»Lisei, was soll ich tun?«
- »Nu, halt nix!«
»Aber was soll denn daraus werden?«
- »Nu, halt aa nix!« Sie begann wieder laut zu weinen.
»Aber i - wenn i z'Haus komm - da krieg i die Peitsch'n!«
»Du die Peitsche, Lisei!« - Ich fühlte mich ganz
vernichtet. »Aber ist dein Vater denn so strenge?«
»Ach, mei guts Vaterl!« schluchzte Lisei.
Also die Mutter! Oh, wie ich, außer mir selber, diese Frau
haßte, die immer mit ihrem Holzgesichte an der Kasse saß!
Von der Bühne hörte ich Kasperl, den zweiten, rufen:
»Das Stück ist aus! Komm, Gret'l, laß uns Kehraus
tanzen!« Und in demselben Augenblick begann auch über
unsern Köpfen das Scharren und Trappeln mit den Füßen,
und bald polterte alles von den Bänken herunter und drängte
sich dem Ausgange zu; zuletzt kam der Stadtmusikus mit seinen
Gesellen, wie ich aus dem Tönen des Brummbasses hörte,
mit dem sie beim Fortgehen an den Wänden anstießen.
Dann allmählich wurde es still, nur hinten auf der Bühne
hörte man noch die Tendlerschen Eheleute miteinander reden
und wirtschaften. Nach einer Weile kamen auch sie in den Zuschauerraum;
sie schienen erst an den Musikantenpulten, dann an den Wänden
die Lichter auszuputzen; denn es wurde allmählich immer finsterer.
»Wenn i nur wüßt, wo die Lisei abblieben ist!«
hörte ich Herrn Tendler zu seiner an der gegenüberliegenden
Wand beschäftigten Frau hinüberrufen.
»Wo sollt sie sein!« rief diese wieder; »'s ist
'n störrig Ding; ins Quartier wird sie gelaufen sein!«
»Frau«, antwortete der Mann, »du bist auch zu wüst
mit dem Kind gewesen; sie hat doch halt so a weichs Gemüt!«
»Ei was«, rief die Frau; »ihr' Straf muß
sie hab'n; sie weiß recht gut, daß die schöne
Marionett noch von mei'm Vater selig ist! Du wirst sie nit wieder
kurieren, und der zweit' Kasper ist doch halt nur ein Notknecht!«
Die lauten Wechselreden hallten in dem leeren Saale wider. Ich
hatte mich neben Lisei hingekauert; wir hatten uns bei den Händen
gefaßt und saßen mäuschenstille. »G'schieht
mir aber schon recht«, begann wieder die Frau, die eben gerade
über unsern Köpfen stand, »warum hab ich's gelitten,
daß du das gotteslästerlich Stück heute wieder
aufgeführt hast! Mein Vater selig hat's nimmer wollen in
seinen letzten Jahren!«
»Nu, nu, Resel!« rief Herr Tendler von der andern Wand;
»dein Vater war ein b'sondrer Mann. Das Stück gibt doch
allfort eine gute Cassa; und ich mein', es ist doch auch a Lehr
und Beispiel für die vielen Gottlosen in der Welt!«
»Ist aber bei uns zum letztenmal heut geb'n. Und nu red mir
nit mehr davon!« erwiderte die Frau.
Herr Tendler schwieg. - Es schien jetzt nur noch ein Licht zu
brennen, und die beiden Eheleute näherten sich dem Ausgang.
»Lisei«, flüsterte ich, »Wir werden eingeschlossen.«
»Laß!« sagte sie, »i kann nit; i geh nit
furt!«
»Dann bleib ich auch!«
- »Aber dei Vater und Mutter!«
»Ich bleib doch bei dir!«
Jetzt wurde die Tür des Saales zugeschlagen; - dann ging's
die Treppe hinab, und dann hörten wir, wie draußen
auf der Straße die große Haustür abgeschlossen
wurde.
Da saßen wir denn. Wohl eine Viertelstunde saßen wir
so, ohne auch nur ein Wort miteinander zu reden. Zum Glück
fiel mir ein, daß sich noch zwei Heißewecken in meiner
Tasche befanden, die ich für einen meiner Mutter abgebettelten
Schilling auf dem Herwege gekauft und über all dem Schauen
ganz vergessen hatte. Ich steckte Lisei den einen in ihre kleinen
Hände; sie nahm ihn schweigend, als verstehe es sich von
selbst, daß ich das Abendbrot besorge, und wir schmausten
eine Weile. Dann war auch das zu Ende. - Ich stand auf und sagte:
»Laß uns hinter die Bühne gehen; da wirds's heller
sein; ich glaub, der Mond scheint draußen!« Und Lisei
ließ sich geduldig durch die kreuz und quer stehenden Latten
von mir in den Saal hinausleiten.
Als wir hinter der Verkleidung in den Bühnenraum geschlüpft
waren, schien dort vom Garten her das helle Mondlicht in die Fenster.
An dem Drahtseil, an dem am Vormittage nur die beiden Puppen gehangen
hatten, sah ich jetzt alle, die vorhin im Stück aufgetreten
waren. Da hing der Doktor Faust mit seinem scharfen blassen Gesicht,
der gehörnte Mephistopheles, die drei kleinen schwarzhaarigen
Teufelchen, und dort neben der geflügelten Kröte waren
auch die beiden Kasperls. Ganz stille hingen sie da in der bleichen
Mondscheinbeleuchtung; fast wie Verstorbene kamen sie mir vor.
Der Hauptkasperl hatte zum Glück wieder seinen breiten Nasenschnabel
auf der Brust liegen, sonst hätte ich geglaubt, daß
seine Blicke mich verfolgen müßten.
Nachdem Lisei und ich eine Welle, nicht wissend, was wir beginnen
sollten, an dem Theatergerüste umhergestanden und -geklettert
waren, lehnten wir uns nebeneinander auf die Fensterbank. - Es
war Unwetter geworden; am Himmel, gegen den Mond, stieg eine Wolkenbank
empor; drunten im Garten konnte man die Blätter zu Haufen
von den Bäumen wehen sehen.
»Guck«, sagte Lisei nachdenklich, »wie's da aufi
g'schwomma kimmt! Da kann mei alte gute Bas' nit mehr vom Himm'l
abi schaun.«
»Was für eine alte Bas', Lisei?« fragte ich.
- »Nu, wo i g'west bin, bis sie halt g'storb'n ist.«
Dann blickten wir wieder in die Nacht hinaus. - Als der Wind gegen
das Haus und auf die kleinen undichten Fensterscheiben stieß,
fing hinter mir an dem Drahtseil die stille Gesellschaft mit ihren
hölzernen Gliedern an zu klappern. Ich drehte mich unwillkürlich
um und sah nun, wie sie, vom Zugwind bewegt, mit den Köpfen
wackelten und die steifen Arm' und Beine durcheinanderregten.
Als aber plötzlich der kranke Kasperl seinen Kopf zurückschlug
und mich mit seinen weißen Augen anstierte, da dachte ich,
es sei doch besser, ein wenig an die Seite zu gehen.
Unweit vom Fenster, aber so, daß die Kulissen dort vor dem
Anblick dieser schwebenden Tänzer schützen mußten,
stand die große Kiste; sie war offen; ein paar wollene Decken,
vermutlich zum Verpacken der Puppen bestimmt, lagen nachlässig
darüber hingeworfen.
Als ich mich eben dorthin begeben hatte, hörte ich Lisei
vom Fenster her so recht aus Herzensgrunde gähnen.
»Bist du müde, Lisei?« fragte ich.
»O nein«, erwiderte sie, indem sie ihre Ärmchen
fest zusammenschränkte; »aber i frier halt!«
Und wirklich, es war kalt geworden in dem großen leeren
Raume, auch mich fror. »Komm hieher!« sagte ich, »wir
wollen uns in die Decken wickeln.«
Gleich darauf stand Lisei bei mir und ließ sich geduldig
von mir in die eine Decke wickeln; sie sah aus wie eine Schmetterlingspuppe,
nur daß oben noch das allerliebste Gesichtchen herausguckte.
»Weißt«, sagte sie und sah mich mit zwei großen
müden Augen an, »i steig ins Kistl, da hält's warm!«
Das leuchtete auch mir ein; im Verhältnis zu der wüsten
Umgebung winkte hier sogar ein traulicher Raum, fast wie ein dichtes
Stübchen.
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