So fand ihn Eugen, als er zu ungewohnt später Stunde zu ihm zurückkehrte.

Mit so viel äußerlicher Unbefangenheit, als er nur erzwingen konnte, legte dieser jetzt seinem Freunde von seinem langen Außenbleiben Rechenschaft ab; erzählte von Besuchen, die er doch endlich einmal habe machen müssen, ohne jedoch den bei der Amme zu erwähnen; brachte von seiner Mutter und seinen Schwestern Grüße und Ermahnungen, sich wohl zu pflegen, um recht bald wieder zu gesunden, und kündigte zuletzt ganz unbefangen, als etwas ganz Gleichgültiges, den nahen Besuch seines Vaters an, der nur noch einiger überlästigen Visiten sich zu entledigen habe, ehe er selbst komme, um sich durch den Augenschein von Richards Befinden zu überzeugen.

Als ob etwas ganz Unerhörtes vor seinen Augen sich zutrüge, starrte Richard seinen Freund an. Der Fürst selbst? Fürst Andreas? zu mir will er kommen? er selbst, und hieher, zu mir? flüsterte er todtenbleich, beinahe unhörbar; die Stimme versagte ihm vor innrer Bewegung.

Thust doch als geschähe es zum erstenmal, sprach lächelnd Eugen; besinne Dich doch nur, wie bist Du denn heute? haben nicht beide, mein Vater und meine Mutter, oft an Deinem Bette gestanden, wenn Du krank warst? Seit wir nicht mehr Kinder sind, und mit Kinderkrankheiten nichts mehr zu thun haben, ist glücklicherweise der Fall nicht wieder vorgekommen; aber was ist es denn Besonderes, wenn ein Vater seinen kranken Sohn besucht? Und hat er nicht stets Dich als solchen gehalten und geliebt, und warst Du nicht immer mein Bruder und bist Du es nicht noch?

O stille! stille! stille! kaum habe ich meine Vernunft wieder erlangt, verlocke mich nicht von neuem, sprach Richard sehr bewegt. Ich weiß jetzt, ich weiß, wiederholte er einigemal, und sank, ohne seine Rede vollenden zu können, dem Freunde durch und durch erschüttert an die Brust.

 

Der verheißene Besuch des Fürsten Andreas unterbrach eine Scene, die für beide Freunde zu angreifend zu werden drohte; doch sah und hörte er beim Eintreten in das Zimmer noch genug davon, um sich in der schon durch Eugens Bericht vorgefaßten Meinung zu bestärken, daß Richard mehr geistig als körperlich leide. Er liebte wahrhaft den Jüngling, der unter seinen Augen, man möchte sagen, unter seiner Pflege, so kräftig und schön heranblühte, und war in diesem Augenblicke nur darauf bedacht, ihn vor dem geistigen Untergange zu bewahren, der, wenn er so fortführe, ihm drohte. Mit wirklich väterlicher Milde und Freundlichkeit suchte er anfänglich durch anscheinend gleichgültiges Gespräch die zu heftige Anspannung dieses reizbaren Gemüthes herabzustimmen, und ergriff, nachdem ihm dieses gelungen, den ersten günstigen Augenblick, um fest und bestimmt zu erklären, daß Richard nur einer ernsten Beschäftigung bedürfe, um schnell und für immer von seinen Leiden geheilt zu werden, die ich, setzte der Fürst freundlich hinzu, mit Deiner Erlaubniß am liebsten Grillen und Einbildungen nennen möchte.

Mit dem lebhaftesten Eifer trat Eugen der Ansicht seines Vaters bei; Richard war an Leib und Seele zu abgespannt, zu gedrückt, zu froh, auf fremde Hülfe in seiner Unentschlossenheit sich stützen zu können, um gegen Vater und Sohn anzukämpfen, die beide jetzt in ihn drangen, sich zur Wahl eines, seine Zukunft fest bestimmenden Planes zu entschließen, zu dessen Ausführung ihm alles zu Gebote stehen solle, was er nur bedürfen könne. Von ihm durch keinen Widerspruch gehindert, fing Richards wohlmeinender Beschützer nun an, dem noch immer in dumpfen Trübsinn Versunkenen eine lange Reihe glänzender Vorschläge für den Lebensweg vorzulegen, an dessen Wendepunkte er jetzt stand. Der zuerst mit zartester Schonung kaum angedeutete, im Falle ihn das Heimweh ergriffen, ihn zurück nach England zu senden, und auch dort allen Beistand, dessen er bedürfen könne, ihm zu gewähren, wurde von dem ehrgeizigen Jünglinge widerwillig, fast zürnend zurückgewiesen, und der Fürst rechnete in seinem Herzen diese Weigerung als einen Beweis seiner liebenden Anhänglichkeit ihm hoch an. Andre Vorschläge, die diesem ersten folgten, wurden zwar besprochen und geprüft, dennoch aber am Ende, unter irgend einem scheinbaren Vorwande, dankend ausgeschlagen.

Das Gespräch zog sich gewaltig in die Länge. Meistens von Richard selbst aufgefundene Schwierigkeiten thürmten überall dem trefflichen Wollen des Fürsten sich entgegen, der vielleicht nicht mehr fern davon war, die Geduld darüber zu verlieren, als Richard plötzlich wie inspirirt aufsprang, und mit krankhafter Heftigkeit höchst überraschend für die militairische Laufbahn im Dienste der russischen Krone sich erklärte. Fürst Andreas und sein Sohn blickten beide verwundert ihn an, und mochten ihren Sinnen kaum trauen. Nie, selbst nicht als Knabe, hatte Richard die mindeste Neigung zum Soldatenstande gezeigt, weshalb sie diesen in die Reihe der ihm dargelegten Vorschläge auch gar nicht aufgenommen hatten.

Der Ort, das Land, wo wir geboren wurden, ist darum noch nicht unser Vaterland! rief Richard mit sein ganzes Wesen verklärendem Enthusiasmus. England war nichts weiter als meine Wiege; früh genug warf sie, achtlos was aus mir würde, mich aus! Hier, wo mein eigentliches Leben unter dem Schutze und der Pflege der Edelsten des Landes erst begann, hier in Rußland ist meine wahre Heimath. Rußland, dem ich Alles verdanke, ist mein Vaterland, und von heute an weih' ich mich feierlich seinem Dienste bis ans Ende meiner Tage.

Nun bist Du wahrhaft mein Bruder! rief Eugen mit glänzendem Auge und drückte, in freudiger Überraschung, den Freund an die Brust; auch der Fürst umarmte ihn, und sprach in den wärmsten Ausdrücken seine Zufriedenheit mit diesem Entschlusse aus. Sie blieben alle drei noch lange beisammen; mancherlei, auf Richards Vorbereitung zu der von ihm erwählten Lebensbahn Bezug habendes, wurde besprochen; manches Beispiel von tapfern bedeutenden Männern, älterer und neuerer Zeit, wurde erwähnt, die ohne durch hohe Geburt oder großen Reichthum unterstützt worden zu sein, zu den höchsten Ehrenstellen in der Armee sich hinaufschwangen.

Und so war denn wirklich diese Abendstunde zu dem am Morgen dieses Tages von ihm selbst noch nicht geahneten Wendepunkte in Richards Leben geworden; doch nicht allein die Zukunft eines bis dahin unbedeutenden englischen Knaben, auch die vieler hundert andren Menschen, vielleicht selbst die eines großen Reiches, wurde durch diese Stunde bestimmt. Darum wage keiner, auch auf das anscheinend unbedeutendste Ereigniß achtlos herunter zu sehen. Wer kann wissen, ob es nicht die Schneeflocke ist, die vom Hochgebirge niederschwebend, zum Kern der Lawine wird, welche in ihrem zerstörenden Laufe zum Ungeheuern sich vergrößernd, Hütten, Wandrer und Heerden dem Untergange zuschleudert.

Ein ganzes Jahr verging, ohne daß in Richards früheren glücklichen Verhältnissen die mindeste Abänderung eingetreten wäre. Mit brennendem Eifer strebte er im Laufe desselben die, für seine künftige Bestimmung ihm noch mangelnden Kenntnisse sich zu erwerben, und Gesundheit und Frohsinn kehrten bei rastloser, wohl angewandter Thätigkeit ihm wieder zurück. War es Mitleid? war es früh ihr zur Gewohnheit gewordene Liebe? wahrscheinlich war es beides, was die Fürstin Eudoxia bewog, während dieser Zeit sich fast noch milder und freundlicher als zuvor gegen den Jüngling zu bezeigen, dessen ihrer Ansicht nach ihm angebornes Mißgeschick ihre innige Theilnahme erregte. Als endlich der Zeitpunkt erschien, wo Richard das gastliche Dach, das in früher Kindheit ihn aufnahm, verlassen mußte, um seiner künftigen Bestimmung zu folgen, da war es Eudoxia, die zuerst auf den Gedanken kam, ihn, dessen bloßer Anblick verrieth, wie schwer jetzt am Scheidepunkte das Gefühl des Verlassenseins von neuem auf ihm laste, durch mannigfaltige Beweise der Theilnahme und des Andenkens beim Eintritte in seine neue Wohnung trostbringend begrüßen zu lassen.

 

Von nun an fühlte Richard sich weit glücklicher und freier, als er in seinem früheren Mißmuthe für möglich gehalten. Bedeutend abgekürzt durch den Einfluß des mächtigen Fürsten Andreas, war seine Dienstzeit als gemeiner Soldat innerhalb weniger Monate überstanden und er zum Unteroffizier erhoben. Daß er als solcher, durch seinen Rang, von der Gesellschaft ausgeschlossen war, zu welcher er früher, als zum Hause des Fürsten Andreas gehörig, unbedingt gezählt wurde, kümmerte ihn wenig. Ungern mochte er jetzt jener Zeit gedenken, die er, in glücklicher Unbekanntschaft mit seiner eigentlichen Stellung, in einer fast ununterbrochenen Folge von Festen und Vergnügungen verlebt hatte; sie erschien ihm jetzt wie ein langer bethörender Rausch, an den man beim späten Erwachen nur mit Ekel und Widerwillen sich erinnern mag. Sein stolzer Sinn schauderte vor dem Gedanken zurück, auch noch ferner in erborgtem Schimmer zu glänzen; aber wenn er Abends an den hellerleuchteten Fenstern der Säle vorüberkam, zu welchen der Zutritt ihm jetzt versagt war, konnte er doch nicht unterlassen, mit innerm Behagen und berechnender Zuversicht der vielleicht nicht ganz fernen Zeit sich im Geiste zuzuwenden, in welcher durch Rang und Verdienst gehoben, es nur von ihm abhängen würde, mit besserem Rechte als ehemals, seine frühere Stelle dort wieder einzunehmen – wenn es ihm nämlich so beliebe.

Aus erbittertem Trotz gegen das, was er in trüben Stunden des Mißmuths als eine Unbill des Schicksals gegen ihn betrachtete, hätte er vielleicht einen seinem jetzigen Range, wenn gleich nicht seiner geistigen Bildung angemesseneren Umgang sich erwählt, und wäre darüber in einen Strudel von lockenden Verführungen und Gemeinheit gerathen; doch Eugen stand wie sein guter Engel ihm treulich zur Seite, er wußte jeden Schatten eines Verdachtes, als sei irgend etwas zwischen ihnen beiden anders geworden, von seinem Freunde fern zu halten; keinen Tag ließ er vergehen, ohne ihn in sein väterliches Haus zu führen, wo Richard stets als ein willkommner, von Allen gern gesehener Gast empfangen ward. Sobald andre Besuche dieses nicht verhinderten, durfte er völlig zwanglos und frei dem häuslichen Kreise dieser edlen Familie sich anschließen, und wurde gleich den Söhnen des Hauses behandelt; auch in seinem Verhältnisse zu Helena war nichts abgeändert worden, allen andern jungen Freunden ihrer Brüder blieb sie unsichtbar, auf ihr einsames Zimmer und den Besuch einiger Freundinnen beschränkt; doch Richard durfte in Eugens Begleitung, oft aber auch allein, in Gegenwart der Madame Sommerfeldt oder auch nur der Amme, sie dort besuchen, um ihre stillen Abende auf gewohnte Weise zu erheitern, deren sie jetzt mehr als sonst hatte, seit Nataliens Verlobung mit dem Fürsten Konstantin bekannt gemacht worden war.

Auch die Fürstin Eudoxia blieb in ihrem freundlichen Benehmen gegen ihn sich gleich. Das herbe, verletzende Gefühl, welches die Amme durch ihre unvorsichtigen Mittheilungen in ihm aufgeregt hatte, wurde dadurch zwar nicht ganz besiegt, aber doch sehr gemildert; er vermochte nicht, der sich ihm aufdringenden Überzeugung zu widerstehen, daß die Worte der sonst so zart fühlenden Fürstin unmöglich in dem Sinne gemeint gewesen sein könnten, welchen die Amme, nach ihrer gemeineren Art, ihnen untergelegt, und daß Frau Elisabeth in ihrer Redseligkeit sich manche Übertreibung habe zu Schulden kommen lassen, ohne es eigentlich zu wollen. Und so trug denn alles dazu bei, ihn zu beruhigen, und ihm die Veränderung seiner Lage weit minder fühlbar zu machen, als er es erwartet hatte.

Von der andern Seite war der unbeschränktere Blick in die ihm näher gebrachte Welt, in die Leiden und Freuden, in alle ihm bis jetzt unbekannt gebliebene wechselnde Zustände des bürgerlichen Lebens, für ihn unstreitig ein Gewinn, der nur durch diese Veränderung seiner ganzen Existenz ihm hatte werden können. So seltsam und selbst verletzend Iwan Yakuchins Glückwunsch, zur Befreiung aus der vornehmen parfümirten Atmosphäre seiner hohen Beschützer, an jenem ersten Abende in seiner neuen Wohnung ihm geklungen haben mochte, so fühlte er doch nach wenigen Monaten, wie viel Wahres darin gelegen. Er war sich bewußt, jetzt weit fester und sichrer aufzutreten, da niemand mehr ihm zur Seite stand, um im Nothfalle ihn zu stützen oder zu leiten; er gewann mit jedem Tage mehr Vertrauen in sich und seine Kraft. In zweifelhaften Fällen wagte er es eine eigne Meinung zu haben, und wußte sich selbst zu rathen, ohne zu Andern seine Zuflucht zu nehmen.

Seit er dem hemmenden Einflusse der die sogenannte gute Gesellschaft beherrschenden Konvenienzen entgangen war, bewegte er sich in einem ihm ganz neuen Kreise, in welchem Iwan anfänglich sein Führer, und hernach sein von ihm unzertrennlicher Begleiter wurde. Überall sah man die Beiden zusammen; im Theater, wo Richard nicht mehr von seines Gleichen geschieden, in einer Loge des ersten Ranges thronte, wie an öffentlichen Belustigungsorten.