Pfui! pfui! und hundertmal pfui! rief er plötzlich laut aufstampfend, und ging heftig, mit zornigen Schritten, im Zimmer umher. Eugen hörte es schaudernd, und suchte vergebens sich zu erklären was er hörte.
Altes redseliges Hausorakel, weise viel erfahrne Pythia, so nannte er dich ja? dir danke ich viel, und du verdienst den Namen: sprach Richard ein andermal. Und als ob in düstrer Nacht ein unerwarteter Strahl des Lichtes ihn träfe, so fuhr Eugen zusammen, der wieder lauschend an der Thüre stand.
Die Amme! ja sie war es die Richard meinte, sie mußte es sein, und Eugen begriff nicht wie es möglich sei, daß er nicht schon längst auf den Gedanken gekommen, sie um Rath zu fragen. War sie doch die Vertraute der Fürstin Eudoxia, wie der kindlich ihr ergebenen Helena; blieb ihr doch nichts was im Palaste seines Vaters vorging verborgen, erfuhr sie doch jedes Wort, das gesprochen wurde im Prunkgemache der Fürstin, wie in der dumpfigen Kammer des niedrigsten Knechtes!
Eugen erinnerte sich jetzt deutlich, daß Richard am Morgen nach jenem letzten Abend, den sie beide bei Helenen zugebracht, die Amme besucht habe, was sehr selten geschah. Er selbst hatte ihn gesehen, wie er ziemlich bleich, mit wankendem Schritte aus ihrem Zimmer in das Seine ging, das er seitdem nicht wieder verlassen. Sie war folglich die letzte gewesen, die in gesundem Zustande ihn gesehen, und sie allein konnte wissen, welch unerwartetes Unheil in der kurzen Zwischenzeit vom Abend bis zum Morgen über den Unglücklichen hereingebrochen sei, das in diesen unerklärlichen Zustand ihn versetzte. Eugen beschloß dies Geheimniß von ihr herauszubringen, es koste was es wolle.
Es war kein leichtes Unternehmen; denn bei aller ihrer Redseligkeit war Frau Elisabeth doch nichts weniger als schwatzhaft. Sie hatte verschweigen gelernt; mit dem ihrem Geschlechte wie ihrem Stande eignen Mutterwitze hatte sie eine gewisse schlaue Vorsicht sich angeeignet, welche durch lange Gewohnheit ihr zur zweiten Natur geworden war, und nicht leicht entschlüpfte ihr ein unüberlegtes Wort. Auch hätte Eugen den Inhalt ihres letzten Gespräches mit Richard wohl schwerlich aus der verschwiegenen Vertrauten des ganzen Hauses herausgebracht, wenn er nicht durch seine lebhafte Beschreibung des traurigen Zustandes des Kranken zuerst ihr innigstes Mitleid zu erregen, und hinterdrein durch verständliche Andeutungen der Gefahr, daß er in Wahnsinn verfallen könne, sie in Furcht und Schrecken zu versetzen gewußt.
Vor allem lag der vorsichtigen Frau daran, unter diesen Umständen ihre eigne Schuldlosigkeit an Richards Erkranken ins hellste Licht zu stellen; sie gestand, daß er an jenem Morgen sehr düster, sehr schwermüthig zu ihr gekommen sei, um sich bei ihr Rathes zu erholen; aber sie behauptete auch, daß er vollkommen erheitert und getröstet sie verlassen habe. Nichts habe, versicherte sie, ihn zu ihr getrieben, als die ihn quälende Sorge, daß, ungeachtet aller Versicherungen des Gegentheils, er selbst eben so wohl als Eugens andre Freunde, am Ende doch noch aus Helenas Nähe verbannt, von ihrem näheren vertrauteren Umgange ausgeschlossen werden würde.
Nie, nie werde ich mich trösten, wenn auf diese Weise mir der einzige Weg verschlossen wird, dem edlen Hause, das so viel an mir gethan, dadurch nützlich zu werden, daß ich fortfahre, die mir unter dem Schutze desselben erworbenen Kenntnisse zur Ausbildung der seltnen Talente der jungen Prinzessin zu verwenden, wie ich bis jetzt es gethan: hatte Richard mit dem Ausdrucke inniger Betrübniß so lange wiederholt, sich so bestimmt geweigert, den Versicherungen der Amme, daß dieses keinesweges zu befürchten stehe, Glauben zu schenken, bis sie durch Gründe von der Wahrheit derselben ihn zu überzeugen sich entschloß. In klaren, nichts bemäntelnden Worten hatte sie, freilich unter der Bedingung unverbrüchlicher Verschwiegenheit, ihm nicht nur alles entdeckt, was Helena damals aus dem Gespräche ihrer Eltern über diesen Gegenstand entnommen, sondern auch wie die Fürstin Eudoxia selbst, und in noch weit stärkeren Ausdrücken, gegen sie, die Amme, sich darüber geäußert.
Genug, Richard hatte auf durchaus nicht schonende Weise von Frau Elisabeth erfahren, was ihm ewig hätte verborgen bleiben müssen, und diese glaubte es ganz vortrefflich gemacht zu haben, während sein stolzes Herz unter dem Gefühle lange unwissend ertragener tiefer Entwürdigung brechen wollte. Der Amme fiel es nie ein, an ihrer Herrin zu zweifeln; und weil diese von dem in der Natur gegründeten Unterschiede zwischen hoch und niedrig Gebornen überzeugt war, so glaubte auch sie daran, ohne sich dadurch im mindesten verletzt oder verachtet zu fühlen. Im Himmel wird es anders sein, dachte sie zuweilen, dort sind wir alle gleich, sagen die Popen; und doch, wer weiß?
Von allem was er hier vernommen seltsam ergriffen und bewegt, verließ Eugen die Amme. Daß er weit davon entfernt war die Ansichten seiner Mutter mit ihr zu theilen, bedarf wohl kaum der Erwähnung; aber die wirkliche Lage seines Freundes, die ihm jetzt zum erstenmal klar geworden war, fiel, eben weil sie so plötzlich vor ihm aufstand, mit Centnerschwere ihm auf das Herz. Auch er, eben so wenig als Richard selbst, hatte früher nie an die wesentliche Verschiedenheit ihrer beiderseitigen Stellung in der Welt gedacht, auch nicht an den gewaltigen Abstand der Ansprüche, welche sie beide an das Leben zu machen berechtiget waren. Richard war ihm von jeher nur als ein geliebter Bruder erschienen, mit dem er alles theilte; wie anders mußte von heute an es werden! Er begriff ganz den bittern Unmuth, die stille Verzweiflung des Freundes, er litt mit ihm schmerzlich und tief; aber ihm blieb der Trost, der jenem mangelte; denn fest und unerschütterlich stand der Entschluß in seinem Gemüthe, alles anzuwenden, um den Freund seinem unwürdigen Zustande zu entreißen, ihn zu heben, zu tragen, und um jeden Preiß die zwischen ihnen im Innern herrschende Gleichheit auch im Äußern wieder herzustellen, und zwar auf immer.
Beim regsten innigsten Mitgefühle vermochte Eugen doch nicht, die ganze Schwere des Unglücks, das auf seinem Freunde lastete, zu ermessen. Als verwöhnte Lieblingskinder des Glückes waren beide neben einander erwachsen, und ihre Jugenderinnerungen konnten nur freudiger Art sein; denn von allem, was frühere bedrücktere Zustände ihm zurückrufen konnte, war auch Richarden, wie schon erwähnt wurde, nichts geblieben als seine Muttersprache, die ihm überdem sogar in diesem fremden Lande als ein besonderer Vorzug angerechnet wurde, um dessentwillen er von vielen gesucht ward. Plötzlich aufgerüttelt aus der süßen Unbewußtheit goldner Jugendträume, mußte ihm jetzt zu Muthe sein wie einem, der auf seidnem Lager entschlief, und unter Sturm und Gewitter, auf öden meerumspülten Felsen, allein und verlassen erwacht.
Ärmer als er jetzt sich fühlte, hat noch kein Menschenkind sich jemals gefühlt. Von allem was ihn umgab, was er sonst, ohne alles Bedenken, als ihm angehörig betrachtet hatte, war, wie es ihm schien, außer dem nackten Leben nichts mehr Sein; er wähnte nicht einmal mehr auf das Obdach über seinem Haupte ein Anrecht zu haben; fürstliche Gnade hatte ihn darunter aufgenommen, fürstliche Laune konnte ihn verjagen, sobald es ihr beliebte, ihn nicht mehr darunter zu dulden.
Immer wilder, immer verworrener wogten, kreuzten sich seine Gedanken, bis sein Elend den höchsten Gipfel erreichte, und er vor Jammer und Mitleid mit sich selbst zu vergehen glaubte; da endlich erwachte sein eigenes besseres Selbst.
Und bin ich denn aber wirklich so elend? so ganz auf fremde Hülfe angewiesen? rief eine tröstende Stimme in seinem Innern: habe ich nicht auch Eltern? ein Vaterhaus, ein schönes hochgepriesenes Vaterland, wo ich hin gehöre, wo ich daheim bin? Nur wer sich selbst aufgiebt, sich selbst verläßt, ist warhaft verlassen.
Er suchte sein aufgeregtes Gemüth auf alle Weise zu beschwichtigen; er schloß die Augen, und strebte mühsam, dunkle Erinnerungen seiner frühesten Kindheit, die traumartig Jahre lang in ihm geschlummert hatten, hinauf an das Tageslicht zu beschwören. Sie erwachten, sie traten aus dem Dunkel hervor. Das schmuzige enge Städtchen Nottingham, das kleine unscheinbare Haus, in welchem seine Eltern wohnten, die räuchrige kellerartige Küche, in der seine Mutter das spärliche Mittagsmahl für die Familie mühselig bereitete. Er sah die Arbeiter unter den staubigen Baumwollenballen, im niedrigen Magazine herumstören, er glaubte sogar die scheltende Stimme seines Vaters zu hören, vor der er sich oft in den dunkelsten, abgelegensten Winkeln des Hauses verborgen, und fühlte dem Allen sich gänzlich entfremdet. In seiner Brust regte sich kein liebendes Gefühl; mit innerem Grauen erfüllte ihn der Gedanke an jenes dunkle enge Leben, zu welchem er doch eigentlich geboren war; ihm schauderte davor, aber verloren gab er sich darum doch nicht.
Richard nahm alle seine Kraft zusammen, um zu nüchternem gelassnem Besinnen sich zu zwingen. Greise, Weiber, Kinder, mögen klagen und jammern, rief er, Männer helfen sich selbst, oder gehen unter im Versuch; nur der ist verlassen, der sich selbst verläßt, sei künftig mein Wahlspruch. Zwar habe ich mein zwanzigstes Jahr noch nicht vollendet, aber ich bin eine frühreife Frucht meines Geschicks, es hat vor der Zeit mich mündig gesprochen, und ich darf sagen, ich bin ein Mann.
So kaltblütig als es ihm nur immer möglich war, fing er jetzt an, alle Vortheile und Nachtheile seiner Zustände zu überlegen, und gelangte endlich zu dem Entschlusse, in die Welt zu gehen, die weit offen vor ihm lag: zunächst nach Amerika, wo so viele seines Gleichen Glück oder Untergang suchen und finden. Der Einzelne kommt überall leicht durch, tröstete er sich selbst, nur Freiheit! Unabhängigkeit! Selbstständigkeit! sei es meinetwegen auch bei Wasser und Brod.
Er gefiel sich in dem Gedanken, und malte mit den lebhaftesten Farben seiner ohnehin sehr gespannten Fantasie ihn sich aus. Schmerzliche Wehmuth ergriff ihn, indem er den Abschied von seinen fürstlichen Pflegeeltern sich dachte, die immer ihm wohlgethan, die er mehr als seine eignen Eltern geehrt und geliebt; von dem vertrauten innigsten Freunde seines Herzens, von Eugen, der mehr als Bruder ihm gewesen, von Helena – da war es plötzlich um seinen Muth gethan! auch Sie sollte er nicht mehr sehen, nicht mehr hören; die Hauptbeschäftigung seines bisherigen Lebens, jeden ihrer Wünsche zu errathen und zu erfüllen, die Freude, bei allen ihren schönen anmuthigen Arbeiten ihr hülfreich zur Seite zu stehen, sollte er aufgeben auf immer und immer: es war ihm undenkbar. Was die süßeste Gewohnheit ihm Jahre lang verborgen gehalten, ward jetzt in einem Augenblicke ihm furchtbar klar, und zum erstenmale fühlte er, welche unzerreißbare Bande ihn an den Boden fesselten, den sie betrat.
Strenge ging er mit sich selbst jetzt ins Gericht, und sprach von jeder vorgefaßten Hoffnung, von jedem thörichten Wunsche sich frei, den er in seiner jetzigen Lage für unverzeihlichen Unsinn erklären mußte. Nichts glaubte er zu wollen, als sie sehen, die nämliche Luft mit ihr athmen, ihr dienen; in jener so verzeihlichen Schwärmerei der ersten Liebe eines reinen jugendlichen Gemüths war er überzeugt, daß er nie Höheres wollen noch wünschen werde. Doch diesem Glück zu entsagen schien ihm unmöglich, er fühlte mit unbeschreiblicher Seelenangst seine Unfähigkeit, mit fester Hand in seine Zukunft einzugreifen, und versank von neuem in hoffnungslose düstre Trostlosigkeit.
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