Moskau wimmelte damals von, aus dem allgemeinen Befreiungskriege erst seit kurzer Zeit heimgekehrten jungen Leuten; mehrere derselben schlossen den beiden Freunden zu vertrauterem Umgange sich an. Mancher Abend wurde in jubelnder Lust, öftrer noch in ernstem, tief eindringendem Gespräche in diesen Versammlungen hingebracht; denn seit jenen großen Ereignissen schien in Moskau wie überall der Geist unbefangener Fröhlichkeit allmälig von der Jugend zu weichen, und Gedanken und Betrachtungen, wie früher nur das reifere Mannesalter sie hegte, waren an dessen Stelle getreten. Die dunkeln Stunden der langen nordischen Nächte zogen über den Erzählungen der jungen Helden von dem, was sie im Auslande gethan und gesehen, ungezählt vorüber. Fromme Wünsche, sogar leise angedeutete Pläne zur Verbesserung des im Vaterlande Bestehenden, kamen zur Sprache. Immer noch glühte jene Begeisterung in ihren Herzen, die zuerst Moskau in Flammen setzte, dann die halbe Welt ergriff, und durch die allein jene Wunder von Ausdauer und Tapferkeit möglich geworden waren, welche nach langen Jahrhunderten noch die späteste Nachwelt mit bewundernder Verehrung erfüllen werden.
Mehreren der aus dem Kriege Heimgekehrten war es gelungen, die strenge Aufsicht, welche an der russischen Gränze die Einführung ausländischer Bücher erschwert, zu umgehen. Kriegslieder, Aufrufe an die deutschen Völker zum gemeinschaftlichen Kampfe, diese alles elektrifirenden Vorläufer jener denkwürdigen Zeit, waren mitgebracht, und wurden mit Enthusiasmus in Zusammenkünften gesungen und gelesen. Aber nicht nur diese allein, auch andre von dem, nach so gewaltsamer Erregung nicht gleich das nöthige Gleichgewicht wiederfindenden Freiheitssinne eingegebene Schriften, hatten auf gleiche Weise den Weg in jene vertraulichen Vereine gefunden; auch sie wurden übersetzt, vorgelesen, besprochen, bestritten, oder auch mit lautem Jubel aufgenommen. Im Auslande schwindlig gewordene junge Brauseköpfe, rissen durch feurige Beredsamkeit ihre Zuhörer zu Plänen und Vorschlägen für das Wohl des Vaterlandes hin; sprachen von nicht länger aufzuschiebenden, zum allgemeinen Besten durchaus nothwendigen Abänderungen verjährter Mißbräuche, und wähnten von reiner Vaterlandsliebe sich beseelt, ohne hinter dieser glänzenden, sie selbst täuschenden Maske, die tief im eignen Gemütheverborgenen Regungen unruhigen Ehrgeizes zu erkennen.
Mit aller Gluth eines lebhaften, in der Welt noch ganz neuen Gemüthes, hing Iwan dann an den Lippen der Redner; ernster und mehr in sich gekehrt, zeigte Richard sich nur als aufmerksamen Zuhörer, dem nicht alles neu war, was er hier vernahm. Zuweilen glaubte er Äußerungen zu hören, über die, nur weitläuftiger und mit andern Worten, der Fürst Andreas sich schon ausgesprochen hatte, dann aber kam auch wieder so vieles zu jenem nicht Passendes, ihm widersinnig Dünkendes dazwischen, das ihn irre machte. Er wünschte von Herzen, die Unterhaltung möge eine fröhlichere, dem jugendlichen Alter angemessenere Wendung nehmen; doch daran war nicht zu denken. Ein heimlich unter der Asche glimmendes Feuer hatte die Gemüther ergriffen, und verbreitete sich im Verborgenen immer weiter und weiter. Gern hätte er diese Gesellschaft, in der er sich nie recht behaglich fühlte, ganz aufgegeben; nicht aus Besorgniß um die möglichen Folgen, an die er nicht glauben konnte, indem er in allen diesen Berathungen nur ein nutzloses, zeitraubendes Spiel müßiger Köpfe sah; aber weil jedes unberufene Einmischen in ernste Angelegenheiten, geschähe es auch nur durch in den Wind verhallende Worte, ihm tief im Innersten der Seele zuwider war. Um Iwans willen, den jede Äußerung seines Mißbehagens tief zu kränken schien, hatte er indessen nicht den Muth, aus einem Kreise zu scheiden, an welchem dieser das höchste Interesse nahm, und ließ es sich zuweilen sogar gefallen, zu später Nachtzeit, nach einigen auf ganz andre Weise in Helenas Nähe froh verlebten Stunden, von seinem Freunde in diese Gesellschaft sich schleppen zu lassen.
Fürst Andreas war mit seinem künftigen Schwiegersohne und mit dem jungen Fürsten Eugen der Einladung zu einer großen Jagdpartie gefolgt; eine leichte Erkältung hielt indessen die Fürstin Eudoxia in ihren Zimmern gebannt, wo ihre beiden Töchter den ganzen Tag über ihr Gesellschaft leisten mußten, weil sie keine Besuche annahm. Richard selbst war in dieser Zeit von Morgen bis Abend mit Vorübungen zu einer Revüe beschäftigt gewesen, die nächstens Statt haben sollte; alles dieses hatte mehrere Tage lang ihn von Helena und dem ganzen fürstlichen Hause entfernt gehalten. Jetzt endlich war aber alles überstanden; die militairischen Übungen waren beendet, des Fürsten Rückkunft wurde stündlich erwartet, und auch Eudoxia war von ihrem Unwohlsein völlig wieder hergestellt.
In der vornehmen Welt war es noch ziemlich früh am Tage, als Richard, von Ungeduld getrieben, eine für Helena bestimmte Rolle frisch angekommner musikalischer Novitäten unter dem Arme, über den weiten Vorhof einer Seitenthüre des Palais zueilen wollte, welche in den von den beiden jungen Fürstinnen bewohnten Flügel desselben führte. Zu seinem höchsten Erstaunen fand er aber schon am großen Thorwege den Weg versperrt. Remisen und Ställe standen weit offen, die Lieblingspferde des Fürsten wurden hinausgeführt, eine Unzahl von Reisekutschen, Packwagen, Fuhrwerken aller Art, bildeten im Hofe eine fast undurchdringliche Wagenburg. Kisten und Koffer von allen Formen und Dimensionen lagen neben und über einander aufgethürmt dazwischen, und singend, fluchend, pfeifend, schreiend, hämmernd, rufend sprang, lief, kletterte eine Armee von Stallknechten, Sattlern, Dienern, Schmieden und Wagnern in diesem Chaos umher. Richard wußte nicht wie ihm geschehen; bis zu jener Seitenthüre durchzudringen war unmöglich; vergebens bestürmte er mit Fragen die an ihm vorbeistreifenden Diener; vor lauter Geschäftigkeit konnte keiner derselben ihm Rede stehen. Endlich gelang es ihm, bis zu dem Haupteingange des Palais sich durch das Getümmel hindurch zu arbeiten; kaum hatte er hier die große Treppe erreicht, als ein Diener der Fürstin Eudoxia ihn in Empfang nahm, der sehr erfreut war ihn anzutreffen, weil er so eben Befehl erhalten, ihn sogleich aufzusuchen und zu seiner Gebieterin zu führen.
In ihm selbst unverständlicher, dumpfer Angst befangen, wankte Richard, wie ein Träumender, den ihm von Kindheit auf bekannten Weg zu den Zimmern der Fürstin hinan, und konnte nur mit Mühe sich zurecht finden; denn Treppen, Korridor, Vorzimmer, alle seit langen Jahren täglich gesehene Gegenstände, kamen in seiner innern Verstörtheit ihm ganz fremdartig vor. Nur als beim Öffnen der Thüre die, aus dem köstlichsten Blumendufte und den ausgesuchtesten Parfümerien zusammengesetzte Atmosphäre ihm entgegen wallte, welche gewöhnlich die Fürstin umgab, kam er einigermaßen wieder zu sich selbst.
Der erste Blick auf die in blühender Gesundheit von ihrem gewohnten Platze ihm entgegen lächelnde Eudoxia, mußte jeden Gedanken an einen ihr oder ihrem Hause widerfahrnen Unfall aus Richards Gemüthe verscheuchen; aber die Last, die beim Anblick der unten im Hofe herrschenden Unordnung ihm schwer auf das Herz gefallen war, abzuschütteln, blieb ihm noch unmöglich; er zitterte fühlbar, indem er die freundlich ihm gebotene Hand an seine Lippen drückte.
Närrchen, was hast Du denn? fragte die Fürstin nach ihrer gegen ihn noch immer beibehaltenen mütterlichen Weise; weißt Du etwa schon? nun was ist es denn weiter! gewiß Du sollst dadurch nichts verlieren.
Richard starrte sie an, wollte antworten, und die Stimme versagte ihm. Ja das ist nun nicht zu ändern, es ist nun einmal nicht anders, wir gehen nach Petersburg, nahm Eudoxia mit großer Gelassenheit wieder das Wort.
Zwischen mir und Andreas war diese Reise zwar schon seit geraumer Zeit so gut als beschlossen, aber so lange die Sache noch einigermaßen zweifelhaft blieb, haben sogar unsre Kinder nichts davon erfahren. Die vielen Fragen in der Gesellschaft, Sie reisen? wann? weshalb? wann kommen Sie wieder? bringen Einen um alle Geduld. Helena selbst weiß erst seit diesem Morgen, daß wir reisen. Ein Theil unsrer Dienerschaft geht mit der Hälfte unseres Gepäckes noch heute ab, morgen oder übermorgen folgt das übrige, und wir mit unsern Töchtern treten in acht bis zehn Tagen die Reise an: denn einen kleinen Vorsprung müssen wir unsern Leuten doch lassen.
Ein tiefer Schmerzenslaut entrang sich Richards Brust; verwundert blickte die Fürstin zu ihm auf; bleich, fassungslos stand er wie vernichtet neben ihrem Armsessel; seine Hand hielt die Rücklehne desselben krampfhaft umfaßt, als bedürfe er dieser Stütze, um nicht umzusinken.
Du bist krank! rief Eudoxia: was überkam Dich so plötzlich? setz' Dich hierher, Du kannst Dich ja kaum aufrecht halten; mein Gott, was ist Dir denn geschehen? fragte sie mütterlich besorgt.
Richard sank zu ihren Füßen hin, und verhüllte seine thränenden Augen in den Saum ihres Kleides.
Du weinst? fragte sie mitleidig: arme, gute, treue Seele, wäre es unsre Abreise, was Dich so betrübt? verlieren und wiederfinden ist ja die ganze Geschichte des Lebens der Menschen auf Erden, das bedenke; das ist nun einmal nicht zu ändern, und man muß sich darein ergeben. Und sei versichert, auch aus der weitesten Ferne sorgen wir für Dich, Du sollst durch unsre Entfernung nichts verlieren; ich und mein Gemahl werden immer als zu unserm Hause gehörend Dich betrachten.
In diesen letzten, gewiß gut gemeinten Worten, im Tone mit dem sie ausgesprochen wurden, lag etwas ungemein Schmerzliches für Richard, das wie ein elektrischer Schlag ihn durchzuckte. Fast vergessene Erinnerungen an das, was die Amme ihm von der Fürstin stolzem Sinne früher bekannte, wachten in ihm auf, und spornten ihn sich zu ermannen. Seine Thränen versiegten, er erhob sich, und nahm der Fürstin gegenüber den Platz ein, den sie vorher ihm angewiesen.
Kann meine gütige Beschützerin mich so mißverstehen? erwiederte er, zwar mit geziemender Ehrfurcht, aber frei ihr ins Auge blickend: kann sie mich, der unter ihren Augen, unter ihrer Leitung vom Kinde zum Manne heranwuchs, für so eigennützig, für so niedrig achten, daß ich in einem solchen Augenblicke eines solchen Trostes bedürfte? ja daß ich nur fähig wäre ihn anzunehmen? Was ich bin, was ich außer dem nackten Leben besitze, verdanke ich meinen edlen Beschützern, fuhr er sehr erregt mit flammenden Augen fort; aber die höchste der Gaben, die ich aus Ihrem Hause mit fortnehme, durch die mein innigstes Dankgefühl mich Ihnen ewig zu eigen macht, ist, daß ich durch Sie in den Stand gesetzt bin, sorglos in die Zukunft zu blicken, und überall das Gefühl mit mir trage, mir selbst auch ohne äußre Hülfe durch die Welt helfen zu können. Aber wie ich es aushalten werde, dieses Haus künftig verödet zu sehen! wie ich alle die vielen langen Tage, die von nun an einander folgen, von denen keiner mir – ach! ich vermag nicht es auszusprechen; der geringste Diener in Ihrem Gefolge scheint mir jetzt beneidenswerth.
Guter dankbarer Sohn, sprach die wirklich gerührte Fürstin; das also ist es allein? liebst Du uns so? aber Deine treue Anhänglichkeit an uns und unser Haus ist mir ja längst bekannt, und auch ich, das glaube nur fest, auch ich werde oft Deiner gedenken, und Dich vermissen.
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