Doch jeder, in welcher Lage er sich auch befinden mag, muß sich das Unabänderliche mit Fassung gefallen lassen, und wenigstens den Trost wirst Du nicht verschmähen, daß wir nicht auf immer von Dir scheiden. In Jahresfrist, vielleicht noch früher, kehren wir zurück, denn ich und Andreas lieben diesen Aufenthalt, und möchten ihn mit keinem andern vertauschen.
Die Minuten, die ich für Dich aufgespart, sind verflossen, und draußen warten hundert Augen auf mich, sprach die Fürstin, indem sie auf ihre Uhr sah. In wenigen Worten will ich Dir noch die Veranlassung dieser Reise erklären, die Dich so betrübt, denn ob wir uns wieder allein werden sehen, ist zweifelhaft. Die künftigen Schwiegereltern meiner Natalie bestehen darauf, das Hochzeitsfest in ihrem Familienkreise zu feiern, und wir, wir müssen aus Rücksichten für das Glück unsrer Tochter ihrem Wunsche nachgeben, obgleich unsre Absicht eigentlich war, Natalien mit ihrem jungen Gemahl erst nach ihrer Vermählung nach Petersburg gehen zu lassen. Nach reifer Überlegung finden wir selbst es rathsam und schicklich, nach langer Abwesenheit uns dem Hofe wieder einmal zu nähern; ich selbst werde meine beiden Töchter dort einführen, und sie dem Kaiser und der Kaiserin vorstellen, denn auch Helena hat das dazu gehörige Alter jetzt erreicht. Und nun geh', guter Richard, der Fürst wird bald hier sein. Bei Tafel sehen wir Dich wieder, andre Gäste werden heute nicht empfangen, Du aber bist ja gleichsam das Kind vom Hause. Fasse Muth und hoffe auf die Zukunft, wenn Dich der Augenblick drückt.
Richard hatte eben noch Besinnung genug, um die ihm abermals gebotne Hand zu küssen, und wankte weit trostloser als er gekommen war zur Thüre hinaus.
Oben an der großen Treppe stand er einen Augenblick still, und blickte hinab in den Vorhof. Das Getümmel hatte dort unten wo möglich noch zugenommen, man fing eben an die Packwagen zu beladen, und das Singen, Lachen und Pfeifen der dabei Beschäftigten klang ihm wie der unmenschlichste Hohn. So wie ihm damals, mag dem Verurtheilten zu Muthe sein, der indem er in seinen Kerker zurück geführt wird, das Schafott erbauen sieht. Ihm schwindelte, er hatte weder Muth noch Kraft die Treppe hinab zu gehen, und durch diese Vorbereitungen zur Zerstörung des ganzen Glücks seines Lebens sich abermals hindurch zu drängen, er wandte der andern Seite des Vorsaales sich zu. In Eugens abgelegeneren Zimmern, zu denen das Getöse im Vorhofe nicht dringen konnte, dachte er einige Augenblicke zu verweilen, um sich dort, in der Einsamkeit, einigermaßen wieder zu sammeln.
Gut, daß ich Dich treffe! rief die auf dem Wege dorthin ihm begegnende Amme ihm entgegen: aber wie siehst Du aus! bist Du krank? hast Du Fieber?
Richard machte eine verneinende Bewegung, reden konnte er noch nicht.
Nun das ist mir lieb, denn zum Kranksein ist jetzt nicht die Zeit, sprach die Amme; hernach, wenn wir fort sind, magst Du Dich legen und pflegen, zu arg wird es doch hoffentlich nicht mit Dir werden. Ja, ja, dann wird es still genug hier im Hause sein, todtenstill, wie im Grabe; jetzt ist es desto lauter. Was nur die Großen von ihrer heillosen Art haben mögen, ihre Befehle immer erst in der letzten Stunde von sich zu geben! so daß man, wenn's ans Ausführen gehen soll, nicht Beine genug hat, um alles zu belaufen, und nicht Kopf genug, um alles zu bedenken. Sieh einmal her, wie ich beladen bin, Kaschmirs, Schmuck, Spitzen und Gott weiß was alles noch; das alles muß auf das Sorgfältigste besorgt werden. Keine Seele von uns hat heute Zeit, Gott helf'! zu rufen, wenn die andre niest; so wird es gewiß bis nach Mitternacht fortgehn, und auf mir liegt alles, ich hab' es am schlimmsten dabei.
In sich selbst versunken setzte Richard, während des unaufhaltsamen Geschwätzes der neben ihm hergehenden Amme, seinen Weg an ihrer Seite fort, ohne ein Wort darauf zu erwiedern. Halt! rief sie, als er in den Korridor einbiegen wollte, der zu Eugens Zimmer führte, wo willst Du hin? der junge Fürst ist noch nicht daheim, und auf jeden Fall mußt Du mit mir zu Helenen, mit der heute gar nicht auszukommen ist; es ist als thäte sie es mir zum Verdruß, damit ich vollends recht rabiat werde. Denke Dir, da sitzt die Kleine in ihrem Zimmer, und rührt sich nicht, und weint, und weint, als wolle sie in Thränen sich auflösen! Weint, wo Andre vor Freude außer sich gerathen würden! Die große Kaiserstadt Petersburg! Hochzeit, Putz, Feste ohne Ende, dem Kaiser, der Kaiserin vorgestellt werden! Die Sinne vergehen Einem, wenn man sich das alles nur recht denkt. Und was wetten wir, sie kommt als Braut wieder, oder gar nicht; he?
Richard wurde noch bleicher. Aber was hast Du denn? rief die Amme; komm' doch, ich habe wahrlich keinen Augenblick Zeit. Madame Sommerfeldt ist ausgefahren, um Abschiedsvisiten zu machen, und kommt schwerlich vor Abend wieder, und da sitzt nun Helene ganz allein, und das ist ihr nicht gut. Keine Einzige von uns, nicht einmal ein Kammermädchen, hat in diesem Wirrwarr Zeit bei ihr zu bleiben; ich am wenigsten, denn wie gesagt, auf mir liegt alles. Du mußt ihr Gesellschaft leisten, mache Musik mit ihr, das wird sie aufheitern; und rede ihr zu, lieber Sohn, sie hat immer viel auf Dich gehalten, gewiß Du vermagst alles über sie. Rede ihr zu, damit sie sich fasse, und mir nicht etwa mit dickgeschwollnen Augen an die Tafel kommt; die Fürstin ist heute ohnehin nicht eben in der göttlichsten Laune.
Unter diesem Geplauder der Amme waren sie an die Thüre von Helenas Vorzimmer gelangt. Die Amme öffnete dieselbe, schob Richard hinein, machte hinter ihm wieder zu, und eilte davon, um über die mit Einpacken beschäftigte weibliche Dienerschaft das Regiment zu führen.
Überwältigt vom ersten Sturme in ihrem Frühlingsleben, war Helene bei Richards unerwartetem Anblicke, von ihrem Sopha herabgleitend, mit einem kleinen Schrei in seine Arme gesunken; sie hielt seinen Nacken umschlungen, wie er neben ihr kniete; das liebliche Köpfchen lehnte an seiner Brust, er fühlte das Wehen ihres Athems, das bange heftige Klopfen ihres Herzens, er sah, dicht vor seinen Augen, das schöne Gesicht von Thränen überströmt, das er noch nie anders als lächelnd gesehen; alles andre um ihn her wurde von der reichen Fülle ihrer langen blonden Locken ihm verborgen, die wie ein dichter Schleier ihn umwallten.
So! so! in diesem Übermaße von Wonne und Schmerz vergehen! war sein einziger Gedanke; wortlos gestaltete er sich in seinem Innern zum heißesten Wunsch, zum glühendsten Gebet. Zum erstenmal hielt sein Arm sie umfaßt; Helenas Wangen, ihre Lippen glühten zum erstenmal dicht an den Seinen. In ihrem Anschauen verloren blickte er regungslos sie an; so still, so frei von jedem irdischen Wunsche, mögen Fromme der Vorzeit, die einer himmlischen Erscheinung gewürdiget wurden, zu ihrer Heiligen aufgeblickt haben.
Ohne sich dessen deutlich bewußt zu sein, hatten Beide aus ihrer knieenden Stellung sich erhoben. Hand in Hand, Auge in Auge, saßen sie schweigend neben einander. Das lange nicht geahnete, hoffnungslose Geheimniß ihres unschuldigen Herzens hatte dieser schmerzliche Augenblick Helenen enthüllt, auch Richard vermochte nicht mehr sich abzuleugnen, was er so lange vor sich selbst zu verbergen gestrebt hatte. Keine Erklärung, kein Geständniß kam über ihre Lippen, ihre Herzen hatten gesprochen, hatten sich verstanden; sie bedurften keiner Worte.
Plötzlich stand Eugen vor ihnen; im ersten Augenblicke fuhr er wie erschreckt zusammen, faßte sich aber schnell wieder; den ernsten traurigen Blick auf den Freund und die Schwester geheftet, stand er ziemlich lange da, ehe einer von ihnen seiner gewahr wurde; laut weinend sank Helena an das Herz des geliebten Bruders.
Mit sanfter Gewalt drängte er sie zurück auf das Sopha, ergriff ihre und Richards Hand, und hielt beide vereint in der Seinen.
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