Auch sein Auge erglänzte in Thränen, auch sein Herz war schwer und beklommen. Ihm war, als ob der undurchdringliche Vorhang der Zukunft sich eine Sekunde lang vor ihm lüften wolle, und schwere Ahnung, bange Besorgniß wollten sich seiner bemeistern. Doch sein froher Jugendmuth, seine ihm angeborne Art, immer das Beste zu hoffen, hielten ihn aufrecht.
O weine nicht so, meine Helena, mein liebes holdes Kind, es bricht mir das Herz, sprach er, und trocknete liebkosend ihre Wange; und Du, mein Bruder, sieh nicht so ungewiß, so zweifelnd mich an, setzte er zu Richard gewendet hinzu. Strebe nicht, Dein Gefühl mir zu verbergen, Du bemühst Dich vergebens; hast Du vergessen, daß ich die Kunst verstehe, in Deiner Seele, wie in einem offenen Buche zu lesen? Arme Helena! Du weinst Deine ersten wahrhaft bittern Thränen, ach! warum mußt auch Du den Schmerz des Lebens so frühe kennen lernen! sprach er leise und gerührt.
Du weißt es also auch schon? hat auch Dir der Vater es erst heute entdeckt, wie mir die Mutter? klagte Helena; Eugen, lieber guter Bruder, ich soll fort von hier, Du auch, wir müssen nach Petersburg, auf lange Zeit, vielleicht auf immer, denn die Amme meint, sie wollen mich dort verheirathen, und Du weißt, die Mutter sagt ihr alles. Richard soll hier bleiben, und ich kann ohne ihn in der großen fremden Stadt nicht sein, ich kann, ich will keinen von Euch Beiden entbehren, auch keinem Dritten angehören; Du und er sind meine Welt. Sie hätten uns, mich und Richard, nicht so an einander gewöhnen, einander nicht so lieb gewinnen lassen sollen, wenn sie uns nicht zusammen lassen wollten! setzte sie, beinahe wie ein trotziges Kind, hinzu.
In welchem Lichte steh' ich jetzt vor Dir, Eugen? sprach Richard; doch wenn Du wirklich noch in meiner Seele, wie in einem offenen Buche zu lesen weißt, so wirst Du Deinen Freund – –
Bedauern? vielleicht; entschuldigen? gewiß nicht; Dich nicht, und auch Helena nicht, denn Ihr seid Beide reinen Herzens und ohne Schuld, unterbrach ihn Eugen; wer könnte mit Euch hadern wollen, weil Ihr nicht stärker seid als die Natur? Die Kleine hat leider recht, setzte er wehmüthig lächelnd hinzu; wollten sie vermeiden, was jetzt geschehen, so hätten sie Euch nicht in so vertrauter Gemeinschaft – aber wie wäre das auszuführen möglich gewesen? Und war es ein Irrthum unsrer Eltern, daß sie nicht gleich bei Zeiten eine Scheidewand errichteten, die jeden von uns in dem ihm vorgeschriebenen Gleise erhielt, so wollen wir sie deshalb nicht tadeln; wir alle Drei verdanken diesem Irrthume eine höchst glückliche Kindheit, eine fröhliche unverkümmerte Jugend, diese holde Blüthenzeit des Lebens, auf die selbst der Glücklichste in spätern Jahren noch mit Sehnsucht zurücksieht. Und ist es denn so ganz unwiderruflich bestimmt, daß diese Blüthen abfallen müssen, ohne uns Früchte zu bringen?
Richard wie Helena fühlten tief im Gemüthe den wohlthuenden Einfluß von Eugens mildem gelassnem Benehmen in einer, für ihn gewiß nicht leicht in allen ihren Folgen zu übersehenden Situation. Die furchtbare Spannung, zu der sie durch das ganz Unerwartete hinauf getrieben worden waren, ließ nach, und sie gelangten allmälig zu einer ruhigeren Stimmung.
Ist jemand unter uns als schuldig zu bezeichnen, so bin ich es, sprach Eugen im Verlaufe des jetzt unter ihnen entstandenen, weniger leidenschaftlichen Gespräches; ich war der Unbefangenere, an mir wäre es gewesen, für Euch Beide zu überlegen, zu bedenken, zwischen Euch vermittelnd einzutreten, Dich zu warnen, mein Bruder, Dich, meine süße Helena, zurückzuhalten, und hätte es auch gewaltsam geschehen müssen. Und doch! was hätte meine Weisheit am Ende gefruchtet? wahrscheinlich so wenig, als alle Weisheit auf Erden, sobald ein mächtigeres Gefühl das Steuerruder ergreift. Nun so sei es darum, das Vergangene sei vergangen, nur von der Zukunft dürfen wir unser Heil erwarten, und ihr nicht nur würdig, sondern auch vorsichtig entgegen treten, keinen Schritt zu viel, aber auch keinen zu wenig. Dies sei von nun an Deine Aufgabe, Richard; die meinige, als treuer Berather und Helfer Dir zur Seite zu bleiben.
O, die Zukunft! was kann, was darf ich Unglücklicher, Namenloser vernünftiger Weise von ihr hoffen oder erwarten? rief Richard.
Alles! habe nur dazu den Muth, erwiederte Eugen. Zur Erreichung eines weit höheren Zieles, als das Deine, von Andern, die in keiner Hinsicht mehr waren als Du bist, wurden in unsrer vielbewegten ereignißreichen Zeit wohl ganz andere Schwierigkeiten besiegt, als die sind, welche Dir im Wege liegen. Soll ich eine Reihe, aus den verschiedensten Ländern stammende Namen Dir nennen, die vor kurzem aus tiefem Dunkel auftauchend, jetzt als leuchtende Sterne auf der nämlichen Bahn glänzen, die Du Dir erwählt hast? Und schüttle nur nicht so ungläubig den Kopf; früher, weit früher als Du denkst, können, werden Ereignisse eintreten, die Dir überflüßige Gelegenheit bieten, auch Deinen Namen jenen glänzenden Erscheinungen, die ich Dir andeutete, anzuschließen.
Zwar hörte Helena sehr aufmerksam auf alles, was ihre beiden Brüder, wie sie dieselben noch immer nannte, sprachen, doch ohne deutlich zu fassen, wie sie es eigentlich meinten. Ihr einfacher Sinn verlangte und erwartete von der Zukunft fürs erste nur, daß sie alles bleiben und bestehen lasse, wie es gewesen, so lange sie denken konnte. Richard täglich sehen, in den nämlichen Verhältnissen wie bisher, war alles was, wie sie wähnte, ihr zum Glücklichsein unentbehrlich war; an eine nähere Verbindung mit ihm kam ihr noch kein Gedanke. Aber die Idee, daß ihre Eltern beabsichtigen könnten, sie in Petersburg zu verheirathen, mit der die Amme sie eingeschüchtert hatte, war ihr unbeschreiblich ängstlich, und sie erklärte schon im voraus ihren festen Entschluß, nie darein zu willigen.
Im Übrigen ergab sie sich mit großer Bereitwilligkeit darein, sich Eugens Leitung ganz zu überlassen; sie versprach ihm, nie, unter keiner Bedingung an Richard zu schreiben. Auch dieser gelobte dem Freunde das Nämliche, der dagegen Beiden verhieß, auch hier als Mittelsperson zwischen ihnen einzutreten, und sie nie ohne gegenseitige Nachricht von einander zu lassen.
Richard und Helena brachten von nun an die, bis zur Abschiedsstunde noch verfließende Zeit, in stetem Schwanken zwischen Wonne und Schmerz hin. Zwar sahen sie sich täglich, doch immer nur für kurze abgerissene Momente; und nur selten mochte es Eugens unermüdlicher Vorsorge gelingen, eine geräuschlose Viertelstunde, die ein ungestörtes Beisammensein ihnen gewähren konnte, ihnen zu gewinnen.
Von nun an schlichen die langweiligen Tage träge und bleiern, in ihrer grauen Farblosigkeit einer dem andern völlig gleich, dem verlassenen Richard vorüber. Eugen hielt zwar sein Versprechen, aber wie wenig ist ein Brief für das in Sehnsucht und Ungewißheit zagende Herz! Mehrere Monate vergingen auf diese Weise, Nataliens Hochzeit war längst in Petersburg mit großer Pracht gefeiert, Helena am Hofe vorgestellt, des Winters Annäherung wurde schon merkbar: da endlich fiel ein heller Morgenstrahl in Richards sternlose Nacht; das Regiment, bei welchem er stand, wurde nach Petersburg verlegt, er selbst zu einem höheren Dienstgrade befördert.
Wiedersehn! welch ein Zauber liegt in diesem kleinen Worte! der selbst bis an den Rand des Grabes seine Wunderkraft nicht verliert; der den Sterbenden ermuthigt, und den Zurückbleibenden dem Übermaße des Schmerzes nicht ganz erliegen läßt.
Richards Freude war gränzenlos; Iwan Yakuchin, dem es im Grunde ziemlich einerlei war, ob er in Moskau oder Petersburg lebe, freute ehrlich und treuherzig sich mit ihm, eben nur, weil Richard sich freute; denn er für seinen Theil wäre wohl lieber in Moskau bei seinen Bekannten geblieben, wenn man ihm die Entscheidung überlassen hätte, doch ohne Richard nimmermehr.
Wie alle guten und bösen Stunden des Lebens, ward auch die für Richards glühende Ungeduld höchst peinliche Zeit der Erwartung bis zum Auszuge des Regiments, und der nicht minder ihn fast zur Verzweiflung bringende langsame Marsch, nebst allen damit verknüpften Beschwerden und Unfällen, endlich überstanden. Eugen nahm bei seiner Ankunft in Petersburg seinen Freund sogleich in Empfang, und Richard erlag fast der überwältigenden Freude dieses Wiedersehens, das der Verkündiger eines noch schmerzlicher ersehnten ihm war.
Der Fürst, die Fürstin, Natalia und ihr junger Gemahl, sie alle nahmen mit dem nämlichen herzlichen Wohlwollen, mit welchem sie von ihm geschieden waren, ihren Schützling als ganz zu ihnen gehörend wieder auf. Auch Eugens ältere Brüder fand er in ihrem väterlichen Hause versammelt, und die jahrelange Trennung von den Gefährten seiner Kindheit hatte keinen von ihnen ihm entfremdet. Der älteste, Fürst Isidor, der nur um seine Eltern wiederzusehen, und der Vermählung seiner Schwester beizuwohnen, nach Petersburg gekommen war, suchte auf das Freundlichste ihn zu ermuthigen, und ging auf mehr als halbem Wege dem Jünglinge entgegen, den er vor vielen Jahren in seinem väterlichen Hause als Kind gesehen, und der beim ersten Anblick der ihm ganz fremd gewordenen, imposanten Gestalt des schönen jungen Mannes, zögernd und verlegen vor ihm stand. Anders war es mit dem Fürsten Alex, Eugens zweitem Bruder, welcher in der Zeit ebenfalls zu einem recht stattlichen Marineoffizier sich entwickelt hatte. Dieser war durch die größere Gleichheit ihres Alters Richarden schon früher weit näher gebracht, als der von Jugend auf ernste weit ältere Bruder, der immer von den jüngern Knaben wie eine Art Respektsperson betrachtet worden war. Mit recht treuherziger Beredsamkeit sprach Alex seine Freude über das Wiedersehen seines alten Spielkameraden aus; manch lustiges Ereigniß aus ihrer frühen Knabenzeit kam unter den Beiden gleich in der ersten Stunde wieder zur Sprache; Eugen verfehlte nicht, lebhaften Antheil daran zu nehmen, und unter fröhlichem Geplauder, unter Lachen und Scherz, fühlte Richard zum erstenmal seit langer Zeit sich wieder zu Hause, unter den Seinen.
Helena allein war bei Richards Empfange im Kreise ihrer Familie nicht zugegen gewesen; denn Eugen hatte unter einem leicht zu findenden Vorwande die nichts ahnende Schwester vom Hause entfernt gehalten. Richard war darauf vorbereitet gewesen sie nicht zu finden, und mußte, wenn gleich mit schwerem Herzen, die Vorsicht des treuen Freundes billigen, die beide der schweren Aufgabe entziehen wollte, ein solches Wiedersehen vor Zeugen zu bestehen, ohne ihr eignes theuerstes Geheimniß zu verrathen; um so heftiger aber war Helenas Zorn, als sie Eugens Verrath, wie sie es nannte, bei ihrer Zuhausekunft erfuhr. Sie blieb die ganze, in schlafloser Erwartung zugebrachte Nacht hindurch unversöhnlich, bis Morgens, zur gewohnten Stunde, der Freund von ihrem Bruder geleitet in ihr Zimmer trat. Er fand, wie vorauszusehen war, sie allein.
Ein Wiedersehen wurde gefeiert, das unbeschrieben bleiben mag. Nicht Jahre, nur Monate lagen zwischen dieser Stunde und der des Scheidens, aber um so wunderbarer mußte die auffallende Veränderung erscheinen, die während dieses kurzen Zeitraums mit der jungen Fürstin vorgegangen war. Ohne an süßem Liebreitze oder anspruchsloser Natürlichkeit dadurch zu verlieren, war das fröhlich-unbefangne Kind, wie durch einen Zauberschlag, zur lieblichsten Jungfrau erblüht.
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