Helena schien größer geworden zu sein, ihr Auge strahlender; ihre Gestalt hatte in seltener Vollkommenheit sich entwickelt. Alles an ihr, ihr Gang, ihr Blick, der Ton ihrer Sprache, deutete bei liebenswürdigster Anmuth auf eine eigne Sinnesfreiheit, ein Selbstbewußtsein, eine Sicherheit des Geistes hin, die bei ungeheuchelter Bescheidenheit zu einer der blendendsten Erscheinungen sie erhob. So durchbricht während einer einzigen lauwarmen Frühlingsnacht die junge Rose die sie verbergende grüne Umhüllung, und entzückt alle Augen und Herzen, indem ihre der Knospe entquellenden Purpurblätter die hohe Pracht verkünden, die sie später, in duftendem Schimmer völlig erblühend, vor der Sonne entfalten wird.
Du siehst so verwundert, so befremdet mich an? fragte Helena lächelnd, sobald der erste, jeden andern Gedanken überwältigende Freudentaumel es erlaubte.
Und kann ich anders? erwiederte Richard: ich sehe Dich, ich halte Dich; Du bist es und Du bist es nicht. Entzückt, betäubt stehe ich vor Dir; Du bist mir so bekannt und doch so fremd. Ich möchte anbetend vor Dir hinknieen, wie vor einem Wunderbilde, das vor meinen geblendeten Augen ein Götterhauch von oben belebte. Helena, sage mir, was ist mit Dir vorgegangen?
Was soll denn mit ihr vorgegangen sein? sie hat die Kinderschuhe ausgezogen und ist eine große vornehme Dame geworden, wie es ihr denn auch nicht anders gebührt. Am Hofe wie in der Stadt wird sie allgemein bewundert und verehrt; da muß sie doch wohl den Kopf ein wenig höher halten als sonst? rief eine laute, etwas kreischende Stimme dazwischen. Es war die Amme, die sich herbei drängte, um auch ihrerseits den lange nicht Gesehenen zu begrüßen, und die beim Eintritte in das Zimmer Richards letzte Worte, aber auch nur diese, gehört hatte.
Ja so ist es, die alte Pythia hat wahr gesprochen, seufzte Richard, nachdem die Amme sich wieder entfernt hatte. Du schöner Stern! Du wandelst in aller Deiner glanzvollen Herrlichkeit hoch über mir, auf Deiner Dir gemessenen Bahn; bewundernd blickt eine Welt anbetender Verehrer zu Dir auf; sie alle, vornehm, reich, brillant, wie Du selbst es bist, dürfen Dir folgen, Dir dienen, um Deine Huld sich bewerben, während ich armer dunkler Erdensohn im Staube, unbemerkt, tief unter ihnen und Dir – –
Kein Wort weiter, kein einziges dieser Art mehr, wenn Du nicht absichtlich mich erzürnen willst, gebot ihn unterbrechend Helena, und richtete sehr ernst sich hoch empor. Was sollen solche Jämmerlichkeiten zwischen uns? kennst Du mich so wenig? fuhr sie sehr lebhaft fort. Ich kann und will Dir nicht heucheln, denn ich bin von Natur jeder Lüge abhold; ich kann Dich nicht glauben machen wollen, daß ich nicht gern bin was ich bin, oder daß ich lieber in einer Hütte leben möchte, als im Palaste meiner Eltern. Ich wäre ein unnatürliches Geschöpf, wenn ich nicht lieber Gefallen als Mißfallen erregte, wenn Tanz, Musik und aller Glanz, der mich umgiebt, mir keine Freude machten, und darf von Dir fordern, daß Du diese Freude gern mir gönnst. Denn Du mußt mir vertrauen wie ich Dir vertraue, und keine armselige Eifersüchtelei darf zwischen uns treten. Im Herzen bin ich Dein, und bleibe es, denn ich kann nicht anders; Du gehörst zu mir, wie ein Theil von mir selbst; dies Gefühl ist mit mir aufgewachsen; ich kann mir gar nicht denken wie es wäre, wenn ich Dich nicht hätte oder nie gehabt hätte. So bleibt es, daran laß' Dir genügen; mag es übrigens um uns her werden wie es wolle, ich bleibe wie ich bin.
Auch in Petersburg, wie früher in Moskau, war Iwan Yakuchin Richards treuer Freund geblieben. Die heitre Gegenwart des stets lebenslustigen Gesellen trug nicht wenig dazu bei, ihm über manche dunkle Stunde hinaus zu helfen, deren er jetzt leider nicht wenige zählte. Tage, ja Wochen vergingen, während welchen Helena und selbst Eugen, hingerissen von dem geräuschvollen Treiben der großen Welt, in deren Mitte sie jetzt lebten, ihm kaum einige, gleichsam im Fluge zu erhaschende Augenblicke schenken konnten. Der Abstand zwischen sich und ihnen ward ihm dann so fühlbar, so drückend, daß er darüber in Trübsinn und Hoffnungslosigkeit rettungslos hätte untergehen müssen, wäre Iwan mit seiner unversiegbaren Fröhlichkeit nicht dazwischen getreten, und hätte ihn zu Vergnügungen fortgerissen, die ihm zwar wenig Genuß, aber doch Zerstreuung gewährten.
Auf diese Weise gerieth Richard auf Kaffeehäusern, in Restaurationen und an ähnlichen Orten in eine zahllose Menge von Bekanntschaften, von denen nur sehr wenige seinem verfeinerten Gefühle für Geselligkeit zusagen konnten. Doch um so weniger durfte er es wagen, seinen gar zu treuherzigen Freund ihnen allein zu übergeben. Der gutmüthige, nichts weniger als argwöhnische Iwan hatte sich sogar schon einigemal an Orte verlocken lassen, wo in Vergnügen verkleidete Raubsucht in tiefer Verborgenheit ihr wüstes Wesen treibt, und nur Richards Gegenwart war es gelungen, den Unvorsichtigen aus ihren Klauen zu befreien, und ihn vor allerlei andern gefährlichen Abenteuern zu bewahren.
Eines Abends gingen beide Freunde mit eintretender Dämmerung Arm in Arm ihrer Wohnung zu. Es war um die Zeit, wo der Winter dem im Norden mit rascheren Schritten heraneilenden Frühlinge zu weichen beginnt; die Newa hatte ihre starre Eisdecke abgeworfen, der Schnee war verschwunden, und ein scharfer Ostwind hatte, selbst in dem sehr abgelegenen, etwas verrufenen Quartiere der Stadt, in welchem sie sich eben befanden, das Labyrinth von engen Gäßchen gangbar gemacht, das nur selten der Fuß der Bewohner der breiten prächtigen Straßen von Petersburg zu betreten pflegte.
Beide Freunde befanden sich eben in keiner rosenfarbnen Stimmung. Richard, durch einen glücklichen Zufall geleitet, hatte abermals seinen leichtsinnigen Schützling in einem der berüchtigtsten heimlichen Spielvereine aufgefunden, und ihn mit sich fortgeführt. Er war in einer sehr nachdrücklichen Strafpredigt begriffen, die Iwan, in seiner großen Unzufriedenheit mit sich selbst, geduldig und reuevoll über sich ergehen ließ, denn er hatte so eben den größten Theil seiner Baarschaft am grünen Tische zurückgelassen. Einige demüthige Versprechungen sich zu bessern waren alles, was er seinem zürnenden und beredten Freunde entgegenzustellen wagte; doch er hatte diese schon zu oft geleistet, und zu oft gebrochen, um einen gewichtigen Eindruck davon hoffen zu können.
Endlich wurde er aber doch des bloßen Anhörens müde: Es geht nicht mit rechten Dingen zu, ich sage Dir ich bin behext, rief er sehr lebhaft. Richy, Du weißt es ja selbst, daß ich am eigentlichen Spielen nicht mehr Freude habe als Du. Wenn es auch anfänglich mich amüsirt, es wird mir immer gleich wieder langweilig, besonders wenn ich gewinne. Anderer Leute Gold einzusäckeln schäme ich mich, ich spiele weiter fort, um es wieder los zu werden; dann geht gemeiniglich auch mein eigenes mit zum T....l, das verdrießt mich, ich spiele weiter, um es wieder zu bekommen, und so wird das Übel immer ärger. Daß man mit solchen Gesinnungen kein Spieler vom Fach werden kann, siehst Du doch ein. Aber ich will mich bessern, das schwöre ich Dir zu, Richy; wenn nur die lustige Gesellschaft mich nicht lockte, ich rührte zeitlebens weder Karte noch Würfel an.
Die lustige Gesellschaft? eiferte Richard: wahrhaftig eine saubere Gesellschaft! Giebt es in der Welt ein abstoßenderes Gesicht, als das im braunen Überrocke, das Dir heute schon zum drittenmal gegenüber saß. Ich meine den großen starken Mann, mit der grünen Brille vor den Augen.
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