Unter ununterbrochenem liebenswürdigem Geschwätz eilte sie mit ihr ins Haus, die Treppe hinauf, ins Zimmer hinein; dankte zehnmal den Begleitern ihres Lieblings, versicherte, gleich morgenden Tages der Schwester einen derben Leviten lesen zu wollen, weil sie die Kleine habe allein gehen lassen, schilderte die Todesangst, die sie über das lange Außenbleiben derselben inzwischen ausgestanden, schalt ihren Eheherrn einen Träumer, weil er sich nicht rechtschaffen mit ihr geängstiget habe, wie es doch seine Pflicht wäre, schäfftelte dabei immer im Zimmer umher, und kam nicht eher zur Ruhe, bis Alle um den schneeweiß bedeckten runden Tisch geordnet saßen, und der Duft des köstlichen Karavanen-Thees, wie man nur in Rußland ihn trinkt, die Luft mit Wohlgeruch erfüllte.
Nun ging es an ein Fragen ohne Ende, bis Julie sich erbot, alles getreulich zu berichten, wenn man nur ein ruhiges Anhören ihr gewähren wolle. Der Uranfang alles Unheils an diesem verhängnißvollsten Abende ihres ruhigen kurzen Lebens, war ein nicht bedeutendes Unwohlsein der Schwester der Frau Lange gewesen. Der Weg zu der Wohnung der guten Dame war nicht weit, Julie hatte einigemal, freilich nicht unbegleitet, ihn zurück gelegt; und um die Kranke nicht ihrer Bedienung zu berauben, hatte sie es gewagt, sich allein nach Hause finden zu wollen.
Es war noch ziemlich heller Tag, als ich zum Hause hinaustrat, sprach Julie, aber ich muß gleich anfangs es versehen haben, denn ich war noch gar nicht weit gegangen, als ich gewahr wurde, daß ich in einer mir ganz unbekannten Gegend der Stadt mich befand; ich wollte wieder zur Tante zurück gehen, aber ich gerieth aus einem engen Gäßchen in das andre. Es wurde neblig, es wurde dunkel, es wurde immer dunkler, Angstschweiß trat mir auf die Stirne, das Herz schlug mir unbändig, hoch und immer höher bis in die Kehle hinauf. Ich lief herum, und wieder herum, bis zum schwindlig werden; wohl zehnmal kam ich immer wieder auf den nämlichen Fleck zurück, ich konnte nicht rückwärts, nicht vorwärts, ich wußte weder ein noch aus. Einige Russen mit langen Bärten traten aus einem kleinen hölzernen Hause heraus; bis jetzt war ich noch keinem einzigen Menschen begegnet, hatte auch fast kein Haus gesehen, denn ich war meistens zwischen hohen Hof- oder Gartenplanken umhergeirrt. Die Männer sahen mich an und lachten mich aus, wie ich so da stand, zitternd vor Angst. Ich wollte mir aber doch ein Herz fassen, und mein bischen Russisch zusammennehmen, um sie um den Weg zu befragen: da entdeckte ich mit einemmal, zu meinem unsäglichen Schrecken, daß ich in der Angst den Namen der Straße, in der wir wohnen, rein vergessen hatte. Die Männer gingen weiter, ich gab mich nun ganz verloren, tausend Schreckbilder drangen auf mich ein, meine Kniee brachen unter mir zusammen, ich sank auf einen Stein, und weinte bitterlich, wie ein kleines Kind.
Ausbrüche des herzlichsten Mitleids brachten hier eine kleine Pause in der Erzählung hervor. Dann sprach Julie weiter:
Wie lange ich so gesessen weiß ich nicht, ich war kaum mehr meiner Sinne mir bewußt. Man ergriff meine Hand, das brachte mich wieder zu mir selbst; eine ältliche Frau stand vor mir, wo sie hergekommen sei wußte ich nicht, mir erschien sie, in dem Augenblicke, wie ein Engel vom Himmel gesandt.
Die berüchtigte Frau Marina war der Engel, der, als wir dazu kamen, eben im Begriff war, das Fräulein in sein Paradies abzuführen, setzte Richard hinzu.
Bei diesem Namen schrieen Lange und seine Frau laut auf. O über die schändliche, verworfene Kreatur! rief er: Julie, arme Julie, was wäre aus Dir geworden, hätte sich diese Deiner bemächtigt! Nie, oder mit Schimpf und Schande bedeckt, hätten unsere Augen Dich unglückliches Kind wieder gesehen. Wie nur die weise Regierung, wie nur der liebe Gott selbst, einen solchen Höllenpfuhl wie ihr verruchtes Haus mitten in der schönen Stadt dulden kann! Aber man behauptet ja offen, solche Krebsschäden wären großen Städten als Abzugsmittel unentbehrlich.
In diesem Augenblicke wurde Herr Lange zu jemanden abgerufen, der ihn zu sprechen verlangte, und sich durchaus nicht wollte abweisen lassen; er folgte sehr widerwillig dem Rufe; nur kein Wort weiter, kein einziges, bis ich wieder da bin, bat er im Gehen. In augenscheinlicher heftiger Bewegung, bleich, erschrocken kehrte er nach einiger Zeit in das Zimmer zurück, und doch schien ein Strahl innerer Freude aus seinen Augen zu leuchten. Alle sahen verwundert ihn an, wie er, keines Wortes mächtig, neben Julien hintrat, und ihre Hände ergriff, indem er ihr forschend ins Gesicht sah.
Julie, sprach er endlich, was hast Du mit dem Kaiser? oder vielmehr, was hat der Kaiser mit Dir? Julie sah bestürzt und ängstlich zu ihm auf.
Seine allerhöchste Majestät, der große Czaar Alexander, der unumschränkte Herr und Gebieter aller Reußen, läßt sich erkundigen, ob die Herrn Richard Wood und Iwan Yakuchin Dich kleines unbedeutendes Persönchen heute Abend sicher und wohlbehalten nach Hause geleitet haben: sprach Lange, so feierlich als möglich. Wie geht das zu? gieb gleich Rede und Antwort! setzte er gleich darauf nach seiner gewohnten lebhaften Art hinzu.
Nun? Du sprichst kein Wort? so laß uns wenigstens das Ende Deiner Abenteuer vernehmen, rief er heftig aufstampfend, als alle verwundert ihn ansahen und Niemand begriff, was er eigentlich meine.
Julie erzählte: Er war es! er war es! Er war es selbst, rief Lange überlaut, ergriff das erschrockene Mädchen, walzte singend und jubelnd mit ihr im Zimmer herum, rückte Tische, Stühle und was ihm im Wege stand, von seiner Stelle fort, so daß das Zimmer in kurzem aussah, als ob Meublesauction darin gehalten werden sollte, gerieth endlich über einen widerspenstigen Nähtisch seiner Frau in's Stolpern, und sank dann athemlos einem Lehnstuhl in die Arme; Iwan und Richard sahen verwundert dem Unwesen zu, Frau Lange aber, die ihren Mann besser zu begreifen schien als die Übrigen, saß in einer Ecke und weinte helle Freudenthränen.
Julie, was bist Du für ein Mädchen! ich bitte Dich um tausendgotteswillen, geliebte Seele, sei kein Klotz! fing Lange wieder an, als er zu Athem gekommen war: ich bitte Dich inständigst, werde vor Freude wenigstens so toll wie ich. Begreifst Du es denn noch immer nicht? der Kaiser war Dein Unbekannter, der Kaiser selbst; gleich fall' auf Deine Kniee und danke dem Himmel für die Ehre, die er Dir angedeihen ließ. Der Kaiser hat mit Dir gesprochen, hat für Dich gesorgt, denke Dir das! er hat der Obhut dieser beiden Herrn Dich empfohlen, und jetzt sogar sich Deiner noch erinnert. Und Ihr, Ihr Herrn Militärs, Die Ihr mit bedenklichen Gesichtern stumm dasteht, fühlt Ihr denn gar nicht, was auch Euch heute Großes widerfahren ist? Aber sagt mir nur, wie ging es zu, daß Ihr nicht gleich ihn erkannt habt? zwar war es nicht mehr ganz heller Tag, aber den da, dächte ich, sollte man auch in finsterer Nacht erkennen können; so wie er sieht nicht leicht ein gewöhnliches Menschenkind aus.
Aber bedenken Sie doch den Ort, die Tageszeit, und alle übrigen Umstände; Sie irren gewiß, es ist ja nicht möglich, wandte Richard ein.
Haben Sie jemals den Kaiser gesehen? fragte Lange ärgerlich.
Nur zweimal, von Ferne, bei der Revüe, und zwar zu Pferde: war die Antwort.
Bah! das will nicht viel mehr als gar nichts sagen, erwiederte Lange den Kopf aufwerfend; ich habe dreimal dicht vor ihm gestanden, und er hat zu mir gesprochen, so leutselig! und hat mir, als ich einmal mich vor ihm hören ließ, eine herrliche Dose geschenkt, Karoline soll sie Ihnen zeigen.
Julie wurde jetzt aufgefordert, die Gestalt ihres Befreiers zu beschreiben; sie that es, so gut und so umständlich, als Angst und Dunkelheit ihr erlaubt hatten, dieselbe aufzufassen.
Es ist nicht mehr daran zu zweifeln, alles trifft aufs Genaueste zu; es war der Kaiser, rief Lange; und wie wäre es denn zu erklären, daß er kaum eine Stunde nach Juliens Heimkehr hier nachfragen ließ? nach Julien, deren Existenz sogar bis jetzt ihm unbekannt geblieben, setzte Frau Lange hinzu: wie hätte ein solches, für jeden, außer uns, im Grunde unwichtiges Ereigniß, so schnell bis zu ihm gelangen, und er so lebhaft dafür sich interessiren können?
Dieses war freilich ein Grund, gegen den sich wenig einwenden ließ. Aber der Kaiser, ohne alle Begleitung, ganz allein, bei sinkender Nacht, in jenem abgelegenen verrufensten Winkel der Stadt? es ist kaum denkbar! wandten Richard und Iwan noch immer etwas ungläubig ein.
Nehmt mir's nicht übel, ihr Herrn, aber das schwatzt wie ein neugebornes Kind, sprach Lange; Ihr müßt in unsrer Kaiserstadt noch gewaltig neu sein, wenn Ihr nicht schon gehört habt, was jeder Narr hier weiß: daß nämlich der große Czaar Alexander, gleich seinem Vorgänger, dem großen Kalifen von Persien, – Dings da, wie hieß er gleich? nun gleichviel! – daß nämlich unser Kaiser, den Gott erhalte, zuweilen, und zwar nicht selten, unbegleitet, ganz einfach angethan, meistens unerkannt, bei Tage wie bei Nacht, unter seinen Unterthanen umher wandelt. Aber nicht etwa um, wie jener Kalif, auf Abenteuer auszugehen; nein es ist wie Goethe sagt,
Soll er strafen, soll er lohnen,
Muß er Menschen menschlich sehn.
Und denken Sie dabei nur nicht an Gefahr für ihn, setzte Frau Lange freudig bewegt hinzu; der milde, der gerechte, der allgeliebte Vater seiner Unterthanen, für den jeder unter uns willig das Leben lassen würde, was hätte er unter seinen Kindern zu fürchten!
Eine Magd trat in diesem Augenblicke ins Zimmer: Katinka, rief Frau Lange ihr zu, der Kaiser hat Julien begegnet, als sie in Angst war, weil sie sich nicht nach Hause zu finden wußte; er hat freundlich mit ihr gesprochen, und sie, von diesen Herren sicher begleitet, zu uns führen lassen.
Freudig erstaunt schlug Katinka beide Hände zusammen, küßte Juliens Kleider, ihre Hände, und eilte hinaus. Gleich darauf hörte man die ganze Dienerschaft des Hauses im Vorzimmer laut werden, Katinka erzählte, alle jubelten über den menschenfreundlichen Kaiser, fast jeder unter ihnen wußte einen ähnlichen Zug von ihm vorzutragen, sie priesen und segneten ihn ohne Ende.
Sehen Sie, so finden Sie es überall. Keine Hütte ist so klein, kein Russe so arm, daß nicht Czaar Alexander, unbewacht und allein, unter dem Schutze desselben sein Haupt sorglos zum Schlummer niederlegen könnte, sprach Frau Lange.
Der berühmte Pianofortist, Heinrich Lange, gehörte ungeachtet seiner ausgezeichneten Talente zu jenen barocken, anfangs abstoßenden Erscheinungen im Leben, die man erst bei näherer Bekanntschaft erträglich, später aber achtungswerth findet. Seine Gestalt, mehr noch als diese seine Art sich zu kleiden, gaben ihm einen Anstrich von Lächerlichkeit, der zwar belustigt, aber weder Liebe noch Achtung erweckt.
Er stand in jenem etwas zweideutigen Mannesalter, schwankend zwischen vierzig und funfzig, in welchem Viele nicht recht zu wissen scheinen, ob sie noch zu den Jungen gehören, oder schon zu den Alten sich zählen müssen; was denn zuweilen auch sein Fall sein mochte. Seine hagre, auffallend kleine Gestalt, hatte etwas Verdrehtes, Windschiefes, durch das man verleitet wurde, ihn für ein wenig verwachsen zu halten, was er doch eigentlich nicht war. Der Fehler lag in dem Mißverhältnisse aller seiner Glieder; sein Kopf war zu groß, seine Arme zu lang, keines paßte zu dem andern, und auch die Züge seines eigentlich geistreichen Gesichts wollten nicht mit einander harmoniren. Aus dieser übermäßig hohen Stirne, dieser keck in die Welt hinaus strebenden Nase, diesem unermeßlich langen Raume zwischen ihr und dem Munde, aus den dunkeln buschigen Augenbrauen, unter denen ein paar kleine farblose Augen kaum sichtbar hervorblinzelten, hätte ein geschickter Zeichner, mit wenigen Abänderungen, eine der ergötzlichsten Karrikaturen bilden können, ohne dabei die Ähnlichkeit allzu sehr zu verletzen.
Eine hohe uhlanenartige Mütze von rothem Sammet, mit großen goldnen Quasten übermäßig verziert, die er selbst innerhalb seiner vier Wände selten ablegte, schwebte, ein wenig gegen das linke Ohr gedrückt, auf der Spitze seines Scheitels; dazu wandelte er gern auf kothurnartigen Absätzen einher, trug einen enganschließenden, ihm fast bis auf die Füße reichenden, sogenannten polnischen Rock von sehr heller, ins Hechtgraue und Röthliche spielender Farbe, mit so vielen Litzen und Troddeln geschmückt, als sich nur darauf anbringen ließen. Ein leicht um den Hals geschlungenes türkisches Tuch, so hell und buntfarbig als möglich, ein breites zierlich gefaltetes Jabot, nebst den dazu gehörigen Manschetten, vollendeten diese seltsame Toilette, die augenscheinlich darauf abzweckte, der Länge des kleinen Mannes, wenn nicht eine Elle, doch wenigstens einige Zoll zuzusetzen.
Die quecksilberartige Lebhaftigkeit seiner Bewegungen, die jeden Augenblick durch ein gewisses, ihm eignes Ungeschick in der Art sie zu regieren gehemmt wurde, sei der letzte Pinselstrich zur Vollendung dieses wunderlichen Porträts.
Aber wie so ganz verschieden von seinem eignen Selbst erschien dieser nämliche Heinrich Lange, wie verschwand alles so gänzlich, was an ihm als lächerlich auffallen konnte, wenn er vor seinem trefflichen Flügel saß, wenn der in ihm wohnende Genius auf mächtigen Schwingen der Phantasie sich erhob, und im Reiche der Töne sich kund gab! Denn dort war seine eigentliche Heimath, dort herrschte er allgewaltig, dort sprach er Ideen, Gedanken, Gefühle aus, für die er im gewöhnlichen Leben keine Worte finden konnte.
In Emilia Galotti läßt Lessing den Maler Conti die Möglichkeit eines ohne Arme gebornen Raphaels annehmen; in diesem Sinne war Heinrich Lange ebenfalls ein geborner großer Poet; aber bei seinem Entstehen jeder Möglichkeit beraubt, anders als mit Hülfe der Saiten, den Gedanken und Empfindungen seines reichen Gemüthes Leben und Gestaltung zu verleihen.
Übrigens war er die harmloseste, zufriedenste Seele von der Welt. Sein Kaiser war, nächst Gott, der Gegenstand seiner innigsten Verehrung, die bis zur Leidenschaft sich steigerte, seit er das Glück gehabt, durch sein Talent ihm bemerkbar zu werden, dadurch einigemal in die nächste Nähe des hohen Beherrschers zu gelangen, und mit ein paar freundlich-lobenden Worten von ihm angeredet zu werden. Von diesem Augenblicke an war Lange dem Kaiser Alexander mit Leib und Seele völlig zu eigen; jede neue, das Lob desselben vermehrende Anekdote, wie man damals unendlich viele in Petersburg erzählte, wurde gleich dem werthvollsten Geschenk von ihm aufgenommen; und daß ein Mitglied seiner Familie sogar eine Hauptrolle in einer solchen gespielt hatte, hob ihn auf den Gipfel des Glücks.
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