Freilich hatte auch er mit dem eignen Vaterherzen einigen Kampf zu bestehen; der hübsche muntre Richard war sein und des ganzen Hauses Liebling; doch mit Eigennutz verknüpfte Rücksichten bilden eine Kette, deren Glieder alle auf das engste ineinander greifen, und die in allen Ständen das gesellige Leben in allen seinen Nüancen durchzieht und umschlingt.

Eines entsteht aus dem Andern; dem Petersburger Banquier Groß lag alles daran, sich in der Gunst eines der mächtigsten Fürsten des Reichs dadurch immer fester zu stellen, daß er jeden Auftrag desselben auf das pünktlichste und schnellste ausführte.

Der englische Banquier, Sir John Murray, war nicht weniger dabei interessirt, die Wünsche eines so bedeutenden Handelsfreundes, wie Herr Groß ihm war, zu erfüllen, und die zwischen ihnen beiden bestehende Connexion dadurch immer fester zu knüpfen. Daß er sein großes Übergewicht über den zwar ebenfalls reichen, aber doch, als Ladenhändler in der City, tief unter dem zum Ritter erhobenen Wechsler stehenden Strumpfhändler dabei in Anwendung brachte, kann man ihm schwerlich verargen; und daß Master Smith, abgesehen von andern noch solidern Gründen zur Gefälligkeit, durch die herablassende Freundlichkeit eines so vornehmen Mannes zu geschmeichelt sich fühlte, um nicht seinen demüthigen Gevatter und Freund, den kleinen geldarmen aber kinderreichen Strumpf-Fabrikanten durch die lockendsten Verheißungen zu seinem Willen zu bringen, liegt nun einmal in der menschlichen Natur.

Leid, sehr leid thut es uns, daß wir die gute Sally, mit ihrem warmen Mutterherzen, noch gewissermaßen dem Ende dieser Kette anhängen müssen; aber abläugnen läßt es sich nicht, daß nur einer von allen Trostgründen, mit denen ihr Ehegemahl sie überschüttete, des gewünschten Eindrucks nicht ganz verfehlte.

Und wenn wir nun, vielleicht noch ehe Jahr und Tag verstreichen, mit Hülfe des von Sir John Murray und Smith & Compagnie uns verheißnen Credits, es dem stolzen Narren Bird und seinem aufgeblasenen Weibe gleich thun können? fragte er, ihr listig lächelnd ins Gesicht schauend; oder wenn, denn man kann nicht immer wissen wie alles kommt, wenn nun gar Mißtreß Wood, in ihrem eleganten neuen Landauer voll geputzter Kinder, an dem magern Einspänner der Mißtreß Bird vorüberrollend, mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken sie begrüßt? Sally! Du kleine Hexe, was sagst Du dazu? He?

Sally sagte kein Wort. Sie weinte immer hin, aber sie lächelte doch ein klein, klein wenig, ganz heimlich und verschämt, mitten in ihren Thränen.

Wolle doch Keiner den ehrlichen Wood zu hart verdammen, oder wohl gar des Kinderhandels ihn beschuldigen, ohne vorher die große Gewalt eines von Jugend auf gesehenen Beispiels zu bedenken. In England, dem Markte der Welt, wie Schiller es sehr treffend nennt, ist vieles auf eine, uns Bewohnern des festen Landes unbegreifliche, ja empörende Weise verkäuflich. Offiziersstellen bei der Armee haben, bis zu einem gewissen Grade, ihren Preiß, um den jeder sie erhandeln, und wenn er sie aufzugeben geneigt ist, auch wieder verkaufen darf. Wie viel Gold und Goldeswerth ein Sitz im Parlamente kostet, ist allbekannt. Der Glückliche, der, wenn er auch nur ganz oberflächlich Theologie studirt hätte, durch Familienverbindungen oder Protection, einer bedeutenden Stelle im Dienste der englischen Kirche sich erfreut, darf frei und öffentlich um geringen Sold einen ärmeren Geistlichen sich erkaufen, der alle Pflichten und Arbeiten seines Standes für ihn übernimmt, während der sehr ehrwürdige Herr, ganz mühelos, eines Einkommens von mehreren Tausenden sich erfreut.

Um die für ihn unerschwinglichen Kosten einer Klage auf Ehescheidung zu ersparen, bindet der englische Tagelöhner, durch einen uralten Gebrauch dazu berechtiget, seinem untreuen Weibe einen Strick um den Hals, und verkauft es an seinen begünstigten Nebenbuhler um wenige Schillinge auf öffentlichem Markte.

Der feine honorable Gentleman aber trägt in ähnlichem Falle die Schande seines Namens, seines Hauses, seiner Kinder vor Gericht, breitet sie dort vor den Augen der Richter auf die widerwärtigste Weise weitläuftig aus, duldet es gelassen, wenn freche Zeitungsschreiber die scandalöse Geschichte zu einem pikanten Artikel in ihren Blättern benutzen, und klagt nicht auf Ehescheidung, sondern auf Schadenersatz durch Geld für den erlittenen Verlust; der denn auch von den Richtern gehörig gewürdigt und taxirt wird, ehe man die gebührende Summe ihm zuerkennt, die er auch ohne Erröthen sich richtig auszahlen läßt.

Möge denn auch der vom täglichen Beispiele verleitete Wood für seine Speculation einige Entschuldigung hier finden, von der sich doch nicht voraussagen ließ, ob sie nicht für den dabei am meisten betheiligten Richard am vortheilhaftesten ausfallen möchte.

 

Unter Thränen, Klagen und häuslichem Jammer aller Art, kam die verhängnißvolle Mittwoche heran. Wenn die Mutter in der Zwischenzeit von Trennung sprach, so weinte Richard mit ihr, und versicherte schluchzend, daß er lieber sterben wolle, als sie verlassen; wenn aber der Vater von der Kutsche und dem prächtigen Schiffe erzählte, auf welchem Richard fahren sollte, so gerieth der kaum achtjährige Knabe in eine ganz andre Stimmung, und schien den Tag der Abreise kaum erwarten zu können. Richard war eben ein Kind, wie alle an Leib und Seele gesunde Kinder sind, der Gegenwart lebend, und immer das Allererwünschteste von der Zukunft erwartend.

Als er das Vaterhaus verlassen sollte, hing er unter lautem Geschrei am Halse der trostlos jammernden Mutter; als man von ihr ihn gewaltsam entfernte, klammerte er sich an den Fuß eines nahe an der Hausthüre stehenden Tisches an. Aber der Anblick der vier stattlichen Pferde vor der ihn erwartenden Kutsche milderte, sobald er auf der Straße war, seinen Schmerz. Die ihm neue Freude des Fahrens, nebst einer Schachtel voll Confect, mit welcher James Cox sich in London zu diesem Zwecke versehen, trockneten völlig seine Thränen. Er langte ganz wohlgemuth bei seinem Pathen an, ließ all' die guten Dinge, die ihn dort erwarteten, sich wohlgefallen, weinte ein wenig, als er beim Zubettegehen die Mutter vermißte, schlief aber, reisemüde, bald ein. Er jauchzte vor Freuden, als er auf das bunt bewimpelte Schiff gebracht wurde, legte die Seereise gesund und munter zurück, und als er landete, war über die vielen neuen fremden Gegenstände, die sich ihm entgegen drängten, die Heimath so gut als vergessen.

 

Fürst Andreas, in dessen glänzenden Palast der kleine Fremdling sich, wie durch einen Zauberschlag, aus der engen Häuslichkeit versetzt sah, in welcher er bis dahin vegetirt hatte, war ein stattlicher, vornehm aussehender Mann, in den sogenannten besten Jahren, das heißt zwischen vierzig und funfzig. Die stolze Haltung, der ernste Blick, bezeichneten in ihm das mächtige Oberhaupt einer, in vielfachen Verzweigungen durch das ganze russische Reich verbreiteten, und sowohl am Hofe als im Volke in hohem Ansehen stehenden Familie. Es lag in seiner Persönlichkeit ein gewisses Etwas, das sich ganz dazu eignete, denen, die zum erstenmal in seine Nähe kamen, ehrerbietige, oder auch, je nachdem die Leute waren, furchtsam-ängstliche Scheu einzuflößen; doch das wahrhaft menschenfreundliche milde Betragen des Fürsten, wandelte diese gar bald in Vertrauen um, das aber nie in Vertraulichkeit ausarten durfte.

Den hohen Rang, die vielen, über Tausende ihn erhebenden Vorzüge, zu welchen sein Geschick ihn geboren werden ließ, wußte Niemand mit mehr Würde und Anstand zu tragen, als Er. In seinem ganzen Wesen zeigte sich keine Spur jener, fast wie Ironie aussehenden, populär sein wollenden Höflichkeit gegen Geringere, die diese nur in ängstigende Verlegenheit setzt, weil sie, aus ihrer Sphäre gehoben, den Maßstab verlieren, nach welchem sie, ohne beklemmende Besorgniß, zu viel oder zu wenig zu thun, ihr eignes Betragen einrichten könnten. Jede Ehrenbezeugung, die seinem hohen Stande gebührte, ließ er gelassen und ohne einen besondern Werth darauf zu legen, sich gefallen. Dadurch erleichterte er Jedem, auch dem Geringsten, den Umgang mit sich, ohne jemals sich selbst etwas zu vergeben.

In seiner Jugend hatte Fürst Andreas mehrere Jahre im Auslande zugebracht, hatte England, Frankreich, Italien und einen großen Theil von Deutschland mit Nutzen bereiset, und mit dem seinem Volke eignen Talente die verschiedenen Sprachen dieser Nationen sich angeeignet, und war dann mit bereichertem Geiste und erweiterten Weltansichten in seine Heimath zurückgekehrt.

Glühende Vaterlandsliebe war der Grundton seines Wesens, und das Bestreben, die Kenntnisse, die er im Auslande sich erworben, zur höheren Kultur seines Volkes zu verwenden, um es mit der Zeit den gebildetesten Völkern Europas gleichzustellen, ward zum Hauptzweck seines Lebens. Dieser innigste Wunsch steigerte mit zunehmenden Jahren sich bis zur Leidenschaft, und verleitete ihn bisweilen zu manchem bedeutenden Mißgriffe; denn er verlor oft, über seine allzugroße Vorliebe für alles Ausländische, die von der Existenz seiner Landsleute unzertrennlichen, durchaus charakteristischen Eigenheiten derselben aus den Augen, und verletzte beim besten Willen, wo er ganz das Gegentheil beabsichtigte.

Seine, an Alter ihm fast gleiche Gemahlin, Eudoxia, war das mildeste Gemüth von der Welt, das Mann und Kinder wie sich selbst liebte, und gleich einer segenspendenden Gottheit, und auch so verehrt, über allen den viel tausend Seelen schwebte, deren große Zahl, nach russischem Gebrauche, den überschwänglichen Reichthum des fürstlichen Hauses bezeichnete. Sie half jeder Noth ab, deren Kenntniß bis zu ihr gelangte; einem menschlichen Wesen wehe zu thun, oder auch nur es leiden zu sehen, wenn man helfen konnte, dünkte ihr unmöglich. Sie hörte es sehr gern, wenn ihre Leibeignen, nach dem naiven Gebrauche des russischen Volkes, sie Mütterchen nannten; was übrigens in jenem Lande ein Ehrenname im Munde desselben ist, dem ein geneigtes Ohr zu leihen, selbst die Kaiserin aller Reußen nicht verschmäht.

Die Fürstin Eudoxia hatte übrigens alle Ansichten ihres Gemahls sich dermaßen angeeignet, daß man wohl von ihr sagen konnte, sie sah nur mit seinen Augen, und dachte nur seine Gedanken. Daß auch er menschlich irren könne, kam ihr eben so wenig in den Sinn, als daß jemals ein ihr nicht gleich Geborner die zwischen ihrer Hoheit und seiner Niedrigkeit bestehenden Schranken übersteigen wollen könne. Aufgewachsen in allen verjährten Vorurtheilen ihres hohen Standes, kannte sie nur Adlige und Leibeigne, und war, mit ächt orientalischer Ruhe, von dem in der Natur gegründeten Unterschiede dieser beiden Menschenracen fest überzeugt, ohne weiter darüber nachzudenken. Doch gerade deshalb trieb die ihr angeborne Güte des Gemüthes sie zum innigsten Mitleide mit den Unglücklichen, denen von der Natur alle innern und äußern Vorzüge schon bei ihrem Eintritte in das Leben versagt worden waren, welche die ihr Ebengebornen gleich einer Glorie umstrahlten.

Um für das ihnen angeborne Elend sie gleichsam zu entschädigen, und es ihnen dadurch minder fühlbar zu machen, entsagte Eudoxia im gewöhnlichen Leben, aus ächter Barmherzigkeit, den ihrer Geburt gebührenden Ehrenbezeugungen. Sie forderte nichts, was Ihrem Gefühl nach jene Armen noch tiefer beugen konnte; aber wehe dem unter ihnen, der tactlos genug gewesen wäre, diese Äusserlichkeiten zu vergessen, ohne von der Fürstin ausdrücklich und besonders dazu aufgefordert und berechtigt worden zu sein. Es giebt keine Worte, um ihr Erstaunen über eine solche, die Möglichkeit überschreitende, an Sakrilegium gränzende Unthat, gehörig zu schildern. Glücklicherweise hatte sie bis jetzt nur selten eine solche Erfahrung gemacht, denn sie ward allgemein, von Hohen und Niedern, geliebt und verehrt.

Auch war Fürstin Eudoxia wirklich eine gute Dame, mit der es sich ganz leicht leben ließ; denn auch sie liebte die Menschen, auch die niedriggebornen, aber freilich ungefähr so, wie wir Andern unsre Lieblingspferde oder Hunde lieben. Wer unter uns hat nicht schon mit mitleidigem Erbarmen auf seinen Hund niedergeblickt, wenn das treue Thier mit klugen Augen uns ansieht, und durch leises Winseln andeutet, daß es gern antworten möchte, wenn die arme stumme Kreatur nur reden könnte.

Isidor, der älteste Sohn des fürstlichen Paares, war bei Richards Ankunft schon funfzehn Jahre alt, und einem deutschen Hofmeister übergeben, unter dessen Leitung er für die diplomatische Carrière sich vorbereitete, für welche er bestimmt war. Alexis, sein um zwei Jahre jüngerer Bruder, wurde für den Militairdienst erzogen, und Eugen, der jüngste der drei Söhne, hatte so eben das siebente Jahr erst erreicht.

Von den beiden Töchtern des Hauses war Natalie, die älteste, ein sehr niedliches sechsjähriges Prinzeßchen, das unter den Händen der, übrigens sehr vorzüglichen Gouvernante, Mademoiselle Duprés, schon eine ziemlich französische Tournüre erhalten hatte, und für ein Muster von Artigkeit galt. Die kleine Helena aber, ein ächtes Kind der Natur, hübsch wie ein Engelsköpfchen, frisch und blühend wie ein Mairöschen, stand noch unter der Aufsicht ihrer Amme, und war die Lust und Freude der Eltern, wie des ganzen Hauses.

Mitten in diesen Familienkreis, zu welchem noch eine bedeutende Anzahl dem fürstlichen Hause anverwandter Kinder gehörte, der auch noch täglich durch demüthigere Gespielen, Söhne und Töchter der vornehmern Dienerschaft erweitert wurde, sah der kleine Insulaner, wie ein fremdes Wunderthier, sehr unvorbereitet sich hingestellt.