Befangen, blöde, daneben etwas verblüfft, sah er nach der Reihe alle die fremden Leute sich an, und das Weinen mochte ihm näher sein als das Lachen.
Doch als Fürst Andreas, in recht verständlichem, wenn gleich etwas fremdartig ausgesprochnem Englisch ihn freundlich anredete, Herr Müller, Isidors Hofmeister, ebenfalls in seiner Muttersprache, ihn aufforderte guten Muthes zu sein, weil es in diesem Hause ihm nicht anders als wohl ergehen könne, und endlich sogar der sonst ziemlich zurückhaltende Isidor die paar englischen Worte, die er von Herrn Müller erlernt hatte, zusammensuchte, um den kleinen Fremdling willkommen zu heißen, da wurde diesem schon leichter um das Herz.
Das Beste dazu aber that Eugen, der kein Wort englisch wußte. Er nahm den neuen Gespielen, der seiner Meinung nach eigens für ihn verschrieben worden war, beim Kopf, fuhr mit linder loser Hand ihm liebkosend durch die lichtblonden Locken, sah ihm lächelnd in die großen blauen Augen, streichelte ihm die feuerroth glühenden Wangen, faßte ihn dann mit beiden Armen an, und sprang mit ihm ein paar Mal durch das Zimmer, daß der Fußboden dröhnte, und die kleine Helena, die sich in das Spiel mischen wollte, von ihrem Bruder beinah umgerannt wurde. Doch Richard nahm noch im rechten Augenblicke sie gewandt auf, und brachte sie zu ihrer Amme; denn er war an Aufmerksamkeiten dieser Art noch von zu Hause her bei seinen kleinen Geschwistern gewöhnt.
Die Nacht mußte Richard, auf Eugens ausdrückliches Verlangen, in der nächsten Nähe seines kleinen Beschützers schlafen; am folgenden Tage wurde der Insulaner mit seinen Umgebungen schon bekannter, und fing an, sich ein Herz zu fassen; nach vier Wochen waren sämmtliche Kinder im Stande, halb in russischer halb in englischer, und wo diese nicht ausreichten, durch Zeichen und Geberden sich unter einander recht leidlich zu verständigen. Es ging freilich ein wenig wie beim babylonischen Thurmbau dabei her, aber die Lust war deshalb nur um so größer, und des Lachens und Jauchzens kein Ende.
Richard wurde wirklich im Hause des Fürsten Andreas den Kindern desselben in jeder Hinsicht völlig gleich gestellt; gekleidet und bedient wie sie, theilte er Unterricht und Vergnügen mit ihnen. Ein alter freundlicher Diener war ihm, mehr zur Aufsicht als zur Bedienung beigegeben, der bei seinen kindischen Einfällen und Spielen ihm redlich half; Eugen, zu welchem Richard der Gleichheit ihres Alters wegen sich vorzugsweise hielt, bekam ein kleines Pferd zum Reiten, und am nämlichen Tage wurde auch Richard mit einem nicht minder hübschen beschenkt; lauter Dinge, an die nur zu denken, ihm daheim auch nicht im Traume eingefallen wäre.
Alle im Hause gaben sich gern und freundlich mit ihm ab, jeder Tag brachte ihm etwas Neues, das ihn erfreute, und so war es denn nicht zu verwundern, wenn die Sehnsucht nach Eltern, Geschwistern, und der fernen Heimath, wo es ihm lange nicht so gut ergangen war als hier, gar bald aus seinem Gemüthe völlig schwand. Richard war kaum acht Jahre alt, ein lebhaftes glückliches Kind; möge dieses zu seiner Entschuldigung dienen, wenn er nach einem kurzen Jahre sich der vorigen Zeit kaum noch erinnerte und ihm bedünkte, wirklich zu sein, was er doch eigentlich nur zu sein schien. An was gewöhnte der Mensch sich leichter als an Wohlleben und Pracht! und was entschwindet schneller und spurloser aus der Seele, als Erinnerung an frühere Armuth und Niedrigkeit.
Aber auch von Seiten der Eltern geschah leider wenig, um ihr Andenken im Gemüthe ihres Kindes lebendig und warm zu erhalten. Gleich nach seiner Ankunft in Petersburg hatte Richard an Vater und Mutter geschrieben, baldige Antwort war darauf erfolgt, doch auf einen zweiten Brief blieb diese mehrere Monate aus, und endlich erhielt er gar keine mehr. Richard gab nun ebenfalls das Schreiben auf, und die Folge davon war, daß er weder an Eltern noch Vaterland weiter dachte, und sich da, wo es ihm so wohl erging, so ganz daheim fühlte, daß ihm zu Muthe war, als sei es immer so gewesen.
Master Wood war aber auch wirklich in Nottingham vom Morgen bis zum Abend dermaßen mit Arbeit belastet, daß er kaum zu sich selbst kommen konnte. Seine Londoner Freunde hatten ihm ihr Versprechen gehalten; mit ihrer Hülfe war es ihm gelungen, sein Fabrikgeschäft um mehr als das doppelte zu erweitern, und den mit ihm rivalisirenden Nachbar Bird völlig zu überflügeln; aber nun gab es auch doppelt zu thun. Es gab so viele Geschäftsbriefe zu schreiben, daß für andre, die ihm ohnehin nie sonderlich aus der Feder fließen wollten, weder Zeit noch Lust übrig blieb.
Zeit, Gewöhnung, häusliche Leiden und Freuden, hatten auch die Thränen der Mutter früher getrocknet, als sie selbst es gedacht, und über die Trennung von ihrem Lieblinge sie getröstet. Freilich hätte sie anfangs ihm gern geschrieben, wäre sie nur in Behandlung der Feder etwas geübter gewesen; als nun aber, mit dem steigenden Wohlstande ihres Hauses, auch ihr Haushalt sich bedeutend vergrößerte, und späterhin sogar ein neuer kleiner Ankömmling die Lücke wieder ausfüllte, welche Richards Entfernung in die Reihe ihrer Kinder gebracht, so daß sie deren wieder vierzehn um sich sah, da begnügte die gute Frau sich ganz gelassen mit den Nachrichten von ihrem abwesenden Sohne, die sie zuweilen durch Vermittelung der Londoner Geschäftsfreunde ihres Mannes aus der dritten Hand erhielt. Sie waren bis jetzt noch immer erfreulich ausgefallen; Master Wood versäumte nie, den Richard betreffenden Punkt aus Sir Johns oder Master Smith's Briefen ihr vorzulesen. Ist es nicht vernünftig, für etwas das man ohne Mühe und Kosten erlangen kann, sich unnütze Schreibereien, und obendrein das theure Postgeld zu ersparen? pflegte er gewöhnlich nach einer solchen Vorlesung zu seiner Frau zu sprechen; und Sally nickte ihm beifällig zu, und wiegte ihr Neugebornes.
Früher noch als man es gehofft stieg Moskau, gleich dem Vogel Phönix verjüngt und verschönert, aus der Asche jenes weltgeschichtlichen Brandes wieder auf, dessen unabsehbare Folgen kommenden Beschreibern unsrer merkwürdigen Zeit noch nach Jahrhunderten Stoff zu Hypothesen liefern werden. Die reichen und vornehmen Bewohner der uralten Stadt, welche, um den Schrecken jener furchtbaren Katastrophe zu entgehen, sich bei Zeiten aus derselben entfernt hatten, kehrten nach und nach in ihre wieder hergestellten Paläste zurück, und auch Fürst Andreas beeilte sich, Petersburg, wohin er damals mit den Seinen sich geflüchtet hatte, wieder zu verlassen, um bei der Vollendung seines prachtvollen Baues in Moskau selbst gegenwärtig zu sein, und die innre Einrichtung und Ausschmückung desselben, nach seinem im Auslande geläutertem Geschmacke, unter seinen eignen Augen besorgen zu lassen.
Sobald alles zu ihrem Empfange eingerichtet war, folgte die Fürstin ihrem Gemahl. Nur ihre beiden Töchter und der jetzt neunjährige Eugen nebst seinem von ihm unzertrennlichen Gefährten Richard begleiteten sie. Der älteste ihrer Söhne, Prinz Isidor, blieb mit seinem Hofmeister zurück, um seine Vorbereitung zur Universität Dorpat, die er im nächsten Jahre beziehen sollte, zu vollenden. Alexis, der zweite Sohn, wurde einer der kaiserlichen Anstalten für die Bildung zur Marine übergeben; denn diesen beschwerlichen Dienst hatte er aus freiem Antriebe sich erwählt.
Das ewig heitre, mitunter wilde Treiben der beiden Knaben, die sie einen wie den andern ihre Söhne nannte, belustigte die Fürstin ungemein. Die von einem so bedeutenden Umzuge unzertrennliche Unruhe, das Hin- und Herlaufen der Arbeitsleute und Bedienten, das Packen und Hämmern, das Rufen und Lärmen vor der Abreise, und endlich die Reise selbst, beschäftigte die Kinder so angenehm und anhaltend, daß sie gar nicht dazu gelangen konnten, sich über den Abschied von ihren Petersburger Spielkameraden gehörig zu betrüben. Während der Reise, vorzüglich aber in Moskau selbst, gefiel ihnen alles ganz unendlich, denn alles war ihnen neu; der mildere Himmel, die schönere Natur rings um Moskau, verfehlten späterhin nicht, diesen Eindruck bleibend zu machen.
Prinzeßchen Natalie war schon zu wohlgezogen, um mit den beiden wilden Knaben sich viel abzugeben, die sie zwar recht lieb hatte, deren lärmende Spiele ihr aber oft Unlust und Mißvergnügen erregten. Die kleine Helena hingegen, die indessen jetzt fest genug auf ihren Füßchen stand, um sich nicht so leicht umrennen zu lassen, war und blieb ihre treue Spielgefährtin, lief, kletterte, sprang mit ihren beiden Brüdern, wie sie sie nannte, um die Wette. Zwar war auch sie einer Gouvernante, und zwar einer Deutschen jetzt übergeben, doch ihre Amme Elisabeth war, von der Fürstin Eudoxia dazu berechtigt, dennoch in Rang und Würden bei ihr geblieben. Sobald es nicht dem eigentlichen Unterrichte galt, den sie freilich ihr nicht ertheilen konnte, hatte Elisabeth die specielle Aufsicht über das Kind ihres Herzens sich nicht nehmen lassen.
Nach alter, ächt orientalischer Sitte, spielen überhaupt in den Familien der russischen Großen die Ammen eine sehr bedeutende Rolle. Frauen aus den höchsten Ständen hängen lebenslänglich mit unverbrüchlicher Liebe an der treuen Pflegerin ihrer hülflosen Kindheit; sie bleibt ihre Rathgeberin, die Vertraute ihrer Leiden und Freuden, und behält bei jeder großen oder kleinen Angelegenheit ihres Lebens eine oft entscheidende, nie unbeachtete Stimme.
Alle vier Kinder wuchsen im geselligsten Familienleben mit einander heran. Mit der Zeit wurden der Spielstunden weniger, der Stunden des Unterrichts hingegen mehr, und manche der letzteren wurden ihnen allen gemeinschaftlich ertheilt. In freien Stunden suchte die kleine Helena, soviel dieses anging, den beiden Knaben fortwährend zur Seite zu bleiben, und das immer frohe, freundliche Kind wurde auch von ihnen als ein lieber willkommner Spielkamerad betrachtet, dem sie, weil er jünger und schwächer war, manches nachsahen und alles zu Gefallen thaten. Richard, als der älteste und stärkste, bestrebte sich besonders, Helenen überall zu vertreten und sie ritterlich in seinen Schutz zu nehmen, wenn Gefahr oder Unbill ihr drohten.
Lebte der gute August Lafontaine noch, und wären seine, fast in der Wiege aufflammenden, jetzt schon halb vergeßnen Kinderlieben noch Mode, welchen Stoff zu den rührendsten und naivesten Liebesscenen hätten die kleine russische Prinzessin und der englische Strumpfwebersbube ihm geboten! Was könnte romantischer erdacht werden, um ihn zum Ausspinnen einer höchst zart empfundenen Novelle zu verleiten. Doch Richard und Helene waren, die Wahrheit zu gestehen, zu gesunde, zu unverschrobene, zu wahrhaft kindliche, mitunter auch, selbst als sie schon ziemlich herangewachsen waren, zu kindische Kinder, als daß so etwas bei ihnen nur denkbar gewesen wäre; sie nannten einander Bruder und Schwester, und liebten sich als solche recht ehrlich und offenbar.
So vergingen mehrere Jahre; Richard blieb, was er vom ersten Tage seines Eintritts in dieses Haus gewesen, der Liebling Aller, vom fürstlichen Ehepaar an bis zum Ofenheizer herab; vor allem aber Eugens innigster unzertrennlichster Freund. Wer beide, ohne sie genauer zu kennen, zusammen sah, mußte für Brüder sie halten; sie selbst hatten gänzlich vergessen, daß nur Wahlverwandtschaft, nicht Bande des Blutes sie verbänden. Alles hatten sie mit einander gemein, die Liebe der Eltern, die Vortheile welche Reichthum, Stand und Geburt, den Söhnen des Glückes gewähren; jeden Unterricht, nicht nur im Gebiete der Kunst und Wissenschaft, auch in ritterlichen Übungen, und in Allem was Jünglinge aus den höhern Ständen bedürfen können, um sowohl in den bedeutendsten Stellungen des öffentlichen Lebens, als auf dem glatten Parkette der Salons, mit Anstand und Sicherheit aufzutreten.
Daß der arme Richard durch alles dieses viel zu hoch über die bescheidne Sphäre erhoben werde, welche sein Geschick beim Eintritt in das Leben ihm angewiesen hatte, daran dachte Keiner, am wenigsten er selbst; sogar das Fürstenpaar schien die zwischen dem in Dunkelheit gebornen Fremdling, und den Sprößlingen seines erlauchten Hauses bestehende Scheidelinie, ganz aus den Augen verloren zu haben.
Die Fürstin wünschte ihre Kinder, besonders ihre Töchter, das ächte Frühlingsleben der Jugend so lange als möglich genießen zu lassen; sie führte sie daher später, als sonst wohl geschieht, in die Gesellschaft der großen Welt ein; versagte ihnen aber, als sie heranwuchsen, keine ihrem Alter angemessne Freude.
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