Sogenannte Kinderbälle, musikalische Übungen, Spazierfahrten im Sommer, Schlittenpartieen an leidlichen Wintertagen, gewährten ihnen Abwechselung und Vergnügen im Überfluß; sogar ein kleines Theater wurde ihnen im Palast errichtet, auf welchem, anfangs an Geburtstagen und bei ähnlichen festlichen Gelegenheiten, kleine dramatische Vorstellungen von ihnen gegeben wurden, die sich zuletzt zu einem förmlichen Liebhabertheater gestalteten.

Alles dieses bot Gelegenheit zu mannigfaltigen Verbindungen mit andern jungen Leuten ihres Standes und Alters. Ganz unbefangen nahm Richard an allen Festen und Vergnügungen thätigen Antheil, und spielte dabei, durch seine persönlichen Vorzüge dazu berechtigt, keinesweges eine untergeordnete, sondern vielmehr eine sehr ausgezeichnete Rolle. Eltern und Heimath wurden über das alles völlig vergessen; darf man ihn deshalb verdammen? Doch mitten in diesem Freudentaumel wurde er ganz unerwartet an beide erinnert, und zwar, sonderbarer Weise, von der Fürstin Eudoxia selbst.

 

Die Fürstin liebte es, in müßigen Stunden sich von ihrem Pflegesohne die neuesten Erzeugnisse der französischen Literatur in ihrem Kabinette vorlesen zu lassen, welche aber damals, gegen den romantisch wilden Schwung, den sie in unsern Tagen gewonnen haben, noch ziemlich nüchtern sich ausnahmen. Das neueste Werk des damals noch sehr bewunderten Herrn von Arlincourt war, zu Richards großer Freude, eines Tages beendet, und er, innerlich noch gähnend, eben im Begriff das Buch an seinen Platz zu bringen, als die heute besonders gütig gestimmte Fürstin plötzlich auf den, ihr nie zuvor gekommenen Einfall gerieth, nach seiner Familie sich zu erkundigen. Sie fragte ihn, wie alt seine Mutter sei, wollte die Anzahl seiner Geschwister, Namen und Alter eines jeden derselben von ihm erfahren, lauter Fragen, die Richard nicht zu beantworten im Stande war, und die ihn beängstigten und verwirrten, weil er, nach langem Besinnen, doch nichts fand, was er darauf erwiedern könne. Durch eine schnell ersonnene Antwort rasch aus der Verlegenheit sich zu ziehen, war seinem redlichen Sinne nicht möglich, und doch war ihm nicht unbekannt, mit welcher Innigkeit alle Russen, vom Höchsten bis zum Geringsten, an den Ihrigen hangen, und mit welcher religiösen Pietät sie besonders ihre Eltern und das Andenken derselben ehrfurchtsvoll hochhalten. In diesem Augenblicke erschien das gänzliche Vergessen der Seinigen ihm beinahe wie ein Verbrechen.

Ich wurde so jung von den Meinigen getrennt – ich erhalte so selten Nachricht von ihnen, stotterte er endlich, erglühend im ganzen Gesicht; Thränen traten ihm in die Augen, als er bemerkte, daß der Fürstin seine Verlegenheit nicht entging. Doch sie mochte dieselbe anders sich deuten, als er in seiner tiefen Beschämung es fürchtete; vermuthlich weil der wahre Grund derselben ihr undenkbar war; denn sie sah mitleidig lächelnd ihn an.

Guter Sohn, sprach sie, freilich liegen mehr als zehn lange Jahre, und Meere und Länder zwischen Dir und den Deinen. Aber was Du dort verlorest, hast Du hier wiedergefunden, und sollst es nie wieder verlieren.

Tief bewegt küßte Richard die ihm gebotene schöne Hand. Ich bin Willens Dir und den Deinen eine kleine Freude zu bereiten, fuhr die gütige Frau fort, Du sollst Deine Mutter und auch Deine Schwestern beschenken. Ein armenischer Kaufmann war heute Morgen bei mir, unter dessen Waarenvorrathe ich allerlei Kleinigkeiten auswählte, die einer englischen Lady vielleicht gefallen können, weil sie in ihrem Lande etwas Seltenes sind.

Schwer beladen mit wirklich fürstlichen Geschenken mannigfaltiger Art, eilte Richard von der Fürstin in sein Zimmer. Seine Freude war gränzenlos; wer ihm in den Weg kam, wurde um Rath und Hülfe angegangen, wie das alles auf das sicherste und sorgfältigste einzupacken wäre. Er gönnte weder sich noch andern Ruhe, bis er seine Kostbarkeiten zur weitern Beförderung auf dem Wege nach Petersburg wußte, und sah hernach täglich nach der Windfahne, bis er Nachricht von der glücklichen Ankunft seiner Sendung aus England erhielt.

 

Seit Nottingham steht, hat wohl kein außerpolitisches Ereigniß in dem Städtchen mehr Lärm gemacht, größeres Aufsehen erregt, als die Ankunft von Richards Sendung. Alle Bekannten, ja die halbe Stadt strömte herbei, Mißtreß Wood zu besuchen, und die nordischen Schätze zu bewundern, deren Gleichen dort nie gesehen worden waren. Die Dose von ächtem sibirischen Malachit, deren Werth Master Wood fast unermeßlich taxirte, die in Gold gefaßten türkischen Pastillen und mit wunderlichen Schriftzügen bedeckten Amulette, die blinkenden Fläschchen mit Rosenöl, die reichen Stoffe, die trefflich gearbeiteten Erzeugnisse russischer Fabriken in Stahl, Krystall und vor allem in Saffian, erregten die höchste, mit etwas Neid untermischte Bewunderung; der zu mannigfaltigem Schmucke gefaßten farbigen Edelsteine nicht einmal zu gedenken; und wenn Mißtreß Wood in ihren ächt türkischen Kaschmir-Shawl gewickelt durch die Straßen stolzierte, füllten sich alle Fenster mit ihr nachschauenden Gesichtern. Sogar die Straßenbuben ließen Ball- und Reifenspiel im Stich, und zogen bewundernd ihr nach.

 

Richard hatte abermals von England und seinen Eltern seit längerer Zeit keine Nachricht erhalten; der dorthin abgesandten Geschenke wurde nicht weiter gedacht, und er fing eben wieder an, sich in Hinsicht auf seine Familie seiner gewohnten Gleichgültigkeit hinzugeben, als ein von dorther an ihn abgesandtes Kästchen, nebst dem Auftrage, im Namen seines Vaters, als schwachen Beweis von dessen Dankbarkeit, es der Fürstin zu überreichen, ihn sehr angenehm überraschte. Freudig eilte er es ihr selbst hinzutragen; es fand freundliche Aufnahme, und wurde sogleich geöffnet, um den Inhalt desselben zu untersuchen.

Strümpfe kamen zum Vorschein, nichts als baumwollne Strümpfe, viele, viele Dutzende, für die Fürstin selbst, und für die Prinzessinnen; aber was für Strümpfe! Strümpfe wie die Welt sie nie gesehen. Wie aus Sommerfäden, von Elfenhänden gewoben, durchsichtigklar, wie der feinste Spitzengrund, an Muster und Gewebe den kostbarsten Brabanter Kanten zu vergleichen.

Eigne Maschinerien hatten zu ihrer Verfertigung erfunden werden müssen; mit unendlichen Weitläufigkeiten und großem Aufwande hatte Master Wood die geschicktesten Arbeiter in diesem Fache aus ganz England herbeigezogen, um mit ihrer Hülfe ein Meisterwerk hervorzubringen, dessen Ausführung in den Annalen des englischen Manufakturwesens seinen Namen verewigen wird.

Das Erstaunen, welches diese Sendung im fürstlichen Palaste zu Moskau erregte, war dem, in welches die gute Stadt Nottingham über die russischen Geschenke gerathen war, zu vergleichen. Die Prinzessinnen, ihre Gouvernanten, die Amme Elisabeth, sogar die Kammerfrauen, wurden auf der Fürstin Geheiß herbei gerufen, um bewundern zu helfen. Des Lobens, des Außersichkommens über die unbegreifliche Feinheit, über die geschmackvolle Arbeit der Strümpfe, war kein Ende, bis der Fürst Andreas selbst zufälliger Weise in das Zimmer trat.

Auch er würdigte den Gegenstand allgemeiner Bewunderung seiner Aufmerksamkeit, und ließ über die hohe Vollendung, zu welcher Fleiß und Industrie die englischen Fabrikate hinaufgetrieben haben, sich weitläuftig aus. Dieses brachte ihn auf seine Lieblings-Idee, auf die Möglichkeit, auch in Rußland durch gehörige Leitung und Unterstützung der arbeitenden Volksklasse ähnliches zu erreichen.

Warum wäre es nicht möglich, einen geschickten Arbeiter aus dieser Fabrik nach Rußland zu ziehen? rief er im Verfolg seiner Gedanken; Richard, sind die Namen des Orts, wo diese Strümpfe gemacht werden, und des Fabrikanten Dir bekannt?

Richard war eben beschäftigt, Helenas Stickrahmen aufzuspannen: Mein Vater hat sie gemacht: war seine nachlässig hingeworfene Antwort.

Die Fürstin erschrak und wurde bald bleich, bald roth.

Dein Vater? rief sie: Richard das hoffe ich nicht. Ist Dein Vater? – macht Dein Vater? – ist Dein Vater denn ein Strumpfwirker? stotterte sie sehr verlegen.

Richard war noch immer neben Helenen mit dem Stickrahmen eifrig beschäftigt.

Ich meine ja: erwiederte er gedankenlos: ich kann mich dessen zwar kaum noch erinnern, aber gewiß muß es so sein. Denn es wurden in unserm Hause immer viel Strümpfe gemacht, soviel weiß ich ganz deutlich: setzte er sich bestimmend hinzu.

Eudoxia verstummte, sah aber mit einem ganz unbeschreiblichen Blicke ihn an, den Richard indessen nicht bemerkte, denn er mußte jetzt Helenen beim Durchzeichnen ihres Musters helfen. Bald darauf entfernte er sich mit den Übrigen. Helene nahm mit ihrer Arbeit hinter den tief herabhängenden Draperien eines Fensters ihren gewohnten Platz ein. Wahrscheinlich ohne ihrer gewahr zu werden, blieben der Fürst und seine Gemahlin übrigens mit einander allein.

Nun? fragte Fürst Andreas, nachdem er einige Augenblicke mit untergeschlagenen Armen vor seiner schmollenden, ihm keinen Blick gönnenden Gemahlin gestanden: nun? was zieht diese sonst immer so glatte Stirne in so krause Falten? was hat es denn gegeben, das Euer Gnaden verdrießt?

Ach Andreas Andreas! seufzte sie: das hättest Du an mir nicht thun sollen! hättest Du Richards niedre Herkunft mir nicht verhehlt, wie hätte ich jemals! – nein dergleichen thut nie gut; Du weißt ich behaupte, es geht wider die Natur.

Seltsames Geschlecht! den will ich sehen der Dir alles recht machen kann! rief herzlich lachend der Fürst. Gute Eudoxia, hast Du denn jemals um Richards Herkommen mich befragt? hast Du wirklich gemeint, ein englischer Herzog oder Lord würde uns seinen Sohn für unsre Kinder herschicken?

So albern bin ich nicht, daß ich einen jungen Lord zum Gesellschafter für unsre Kinder fordern sollte: erwiederte sie, ziemlich gereizt; aber ein Handwerksbursch? – der Abstand ist zu ungeheuer! ich wollte ich hätte den unglücklichen Richard nie gesehen! ich möchte über ihn weinen.

Helena, in ihrer Fensterecke mit ihrer Stickerei beschäftigt, hatte bis dahin auf das Gespräch ihrer Eltern nicht sonderlich geachtet. Jetzt ward sie aufmerksam; die Nadel entfiel ihrer Hand; sie hob sie nicht wieder auf, sondern näherte sich vorsichtig dem sie verdeckenden Vorhange, der von dem hohen Fensterbogen herabschwebte.

Aber gute theure Eudoxia, wie kannst Du mit so barmherzigen Gesinnungen Dich quälen wollen, die hier gar nicht am rechten Orte angebracht sind! erwiederte der Fürst, und faßte liebkosend seiner Gemahlin nur schwach widerstrebende Hand. Wie würde Richard über Dein unverdientes Mitleid sich verwundern, dessen Veranlassung ihm ganz unerklärlich scheinen müßte! Er ist ja nichts weniger als unglücklich oder bedauernswerth, fuhr der Fürst fort; zwar ist er kein Prinz, aber eben so wenig ein Handwerksbursche zu nennen. Richards Vater ist ein Mitglied jener höchst achtungswerthen Klasse von Bürgern, welcher Großbritannien seinen Reichthum und dadurch seine Größe verdankt.