So viel ich durch Herrn Groß erfahren, ist er Besitzer einer Fabrik in einem englischen Mittelstädtchen; hat viele Kinder, bei nicht sehr bedeutendem Vermögen; und entschloß sich deshalb, einen seiner jüngern Söhne im Auslande zu versorgen. Was liegt denn darin so Entsetzliches? Gewiß wird er noch obendrein in kurzer Zeit sehr reich werden, wenn er es nicht schon geworden ist. Denn diese Probe seiner Fabrikate ist ein Beweis, daß er durch Erfindungsgeist und Industrie sich vor vielen andern auszeichnet, und sich auf dem rechten Wege befindet, sein Glück zu machen.

Was liegt daran? klagte Eudoxia; und wenn er Millionen erwürbe, das ändert nichts. Die Geburt entscheidet; ein geborner Leibeigner bleibt es ewig.

Aber es giebt keine Leibeigenen in jenem Lande, wo selbst der an der Küste von Guinea für baares Geld erkaufte Neger ein Freier wird, sobald er den Fuß auf englischen Boden setzt: erwiederte etwas ungeduldig der Fürst.

Das alles habe auch ich in Büchern gelesen, antwortete Eudoxia im nämlichen Tone; aber wenn dem auch so ist – wenn das gemeine Volk, Arbeitsleute, Diener, Handwerker, und jene Manufakturisten, die sich nur dadurch von diesen letzteren unterscheiden, daß sie das Handwerk mehr ins Große treiben, wenn das alles auch dort nicht leibeigen genannt wird, es gehört doch zu einer Klasse – genug, es ist ebenso von uns verschieden, als das armselige Haidekraut von der Rose, die doch auch alle beide zum Pflanzenreiche gezählt werden.

Deine Klagen werden wirklich poetisch: rief der Fürst gutmüthig spottend.

Wie bedauernswürdig ist der arme Richard! fuhr Eudoxia fort; warum mußte er von der Natur für ein weit höheres Loos ausgestattet werden, als das ist, wozu sie ihn bestimmte! Ich meinte er sei wenigstens der Sohn eines Kaufmanns, wie Herr Groß in Petersburg und Andre, die zuweilen Zutritt zu uns haben, weil sie gewissermaßen den Übergang zu den niedrigen Volksklassen bilden, zu denen sie nur halb gezählt werden können. Ich habe gehört, daß der jüngere Bruder eines Lords sich in England oft dem Kaufmannsstande widmen muß, weil nur der älteste Erbe der Familiengüter und des mit diesen verbundenen Adels werden kann. Ich habe das oft gehört und gelesen, und konnte, nach Richards vortheilhaftem Äußern zu urtheilen, nur denken, daß er Abkömmling eines solchen edeln Stammes sei; und nun muß ich heute erfahren, daß er im niedrigsten Stande, aus unedlem Blute – –

Halt, halt, rief lachend der Fürst: machst Du doch aus lauter Liebe und reinem Mitleid den armen Jungen vollends zum Paria. Dann setzte er zu ihr sich hin, und gab, ernster werdend, sich alle ersinnliche Mühe, ihre Ideen über diesen Punkt zu berichtigen.

Seine Reden und Gründe glitten an dem unbeugsamen Glauben der Fürstin ganz wirkungslos ab; desto größern Eindruck aber machten sie auf Helenen, die bis dahin mit gespannter Aufmerksamkeit dem Gespräche ihrer Eltern zugehört hatte. Sie fing schon an sich mit ihrer Mutter über Richards, ihr freilich ganz unverständliches Unglück, recht von Herzen zu betrüben, und die Thränen traten ihr darüber in die Augen; aber die Worte ihres Vaters, dem sie gewöhnt war unbedingt zu vertrauen, ermuthigten und trösteten sie wieder. Sie kehrte leichteren Herzens zu ihrem Stickrahmen zurück, als das Gespräch Familienangelegenheiten sich zuwandte, die sie wenig interessirten; doch als sie im Verlaufe desselben ihren eignen Namen nennen hörte, mußte sie wider Willen abermals darauf achten.

Wahr ist es, hörte sie die Mutter sagen, Helenen kann man beinahe ganz erwachsen nennen; das ist so gekommen, ohne daß ich es recht gewahr worden bin. Die Jahre vergehen so unbemerkt und schnell, die Veränderungen, die sie mit sich bringen, treten so leise, so allmälig ein, daß man nur zufällig, zu eigner großer Überraschung sie entdeckt, als wären sie durch ein Wunder im nämlichen Augenblicke erst entstanden. Die liebe kleine Helena! wenn wir kommenden Winter die Verlobung ihrer Schwester mit dem Fürsten Konstantin feiern, werde ich es schwerlich vermeiden können, auch sie in die Welt zu führen, und doch hätte ich es gern, wenigstens noch um ein Jahr verschoben. Ich möchte die frohe Jugendzeit ihr noch lange erhalten; sie lebt jetzt ihre glücklichsten Tage; diese vergehen schnell und kehren nie wieder.

Wohl wahr, erwiederte der Fürst, doch diese Tage, so schön sie auch sein mögen, müssen, wie jeder andre Tag im Leben, endlich andern Tagen weichen. Helena wird sich endlich doch bequemen müssen, auch scheinen zu wollen was sie ist, ein erwachsenes Mädchen. Mich dünkt es wäre endlich Zeit, daß sie die Spielkameraden ihrem Bruder überließe, und sich mit Gespielinnen begnügte. Mag diese Veränderung ihrer Lebensweise immer einige Monate früher eintreten, ehe sie nothwendig wird, damit sie sich daran gewöhnt, ehe sie den Fesseln sich beugen muß, welche Konvenienz, Geschlecht und Stand, ihr wie jedem jungen Mädchen ihres Alters anlegen. Ich muß Dir gestehen, Eudoxia, ich habe in der letzten Zeit, nicht ohne stille Besorgniß, sie so ganz unbefangen und zwanglos mit Eugens Freunden umgehen sehen; wie leicht könnte sich da etwas anspinnen, das uns, wenn Helena älter wird, der bösen Tage genug machen würde.

Wo waren meine Sinne! auch daran habe ich nicht gedacht! rief die Fürstin sehr lebhaft. Du hast Recht, vollkommen Recht. Die große wöchentliche Tanzstunde, der musikalische Verein, müssen sobald als möglich abbestellt werden; da ist der, und der, und der, – sie nannte die Namen mehrerer jungen Leute, Söhne vornehmer und angesehener Familien, welche täglich ihr Haus und ihre Kinder besuchten, – es sind Eugens Jugendfreunde, – und mögen sie es immer bleiben, setzte sie hinzu, aber für unsre Tochter – – nun ich hoffe es ist noch nicht zu spät.

Das hoffe ich auch, sprach lächelnd der Fürst. Eudoxia, fuhr er nach einer kleinen Pause ernster werdend fort, Du zweifelst nicht an meinem festen Vertrauen; Du weißt es, ich kenne Dein Gemüth, Deinen klaren Verstand, den nur hier und dort kleine unschädliche, Dir mit der Muttermilch eingeflöste Vorurtheile zuweilen umdunkeln; ich ehre Dein schönes Talent, mit sanfter Hand alles zum Besten zu leiten, ohne durch die Güte Deines Herzens Dich von Deinem Zwecke abführen zu lassen. In allem was unsre Töchter betrifft laß ich Dir freie Hand, denn die Ehre wie der Vortheil unsres Hauses liegen Dir nicht minder am Herzen als mir. Nur suche nie unsern Eugen von den Freunden zu entfernen, mit denen schon die Spiele seiner Kindheit ihn verbanden, das Einzige erbitte ich von Dir. Was ist in späteren Tagen dem Manne von höherem Werthe, als ein treuer Jugendfreund! in Noth und Tod, in Sturm und Gewitter, beut er ihm eine sichre Zuflucht, oder geht Arm in Arm mit ihm zu Grunde. Ach! und es werden Tage kommen, schwere heiße Kämpfe, wo es wohl Noth thun wird fest an einander zu halten! setzte er sehr bewegt, halb leise hinzu.

Die Fürstin war in diesem Augenblicke mit ihren eignen Ideen zu beschäftigt, um diese Andeutungen so zu beachten, als sie es zu andrer Zeit gethan haben würde. In Hinsicht auf Eugen hast Du vollkommen Recht, erwiederte sie, aber unsre Töchter dürfen solche Konnexionen nicht bilden. Sie können ihrem Geschick nicht vorgreifen, sie müssen geduldig abwarten, was Gott und ihre Eltern über ihre Zukunft beschließen. Übrigens will ich noch heute über die ihrem Alter angemessenen Beschäftigungen unsrer jüngsten Tochter, und über die nothwendige Beschränkung ihrer Gesellschaft mit Madame Sommerfeldt mich berathen; Helenas Gouvernante ist eine verständige welterfahrne Frau; sie wird auf meine Ansichten eingehen, und alles dem gemäß anzuordnen wissen.

Und Richard? muß auch er aus Helenas Nähe verbannt werden? fragte ein wenig spottend der Fürst; Helena horchte hoch auf.

Ach, warum quälst Du mich so! Du weißt es ja, von dem kann ja hier gar nicht die Rede sein, das bleibt wie es ist, erwiederte die Fürstin etwas ungeduldig.

Beide verließen das Zimmer, und Helena gewann dadurch Zeit, unbemerkt aus ihrem Verstecke zu entkommen.

 

Helena war der Pflege ihrer Amme zwar schon längst entwachsen; doch diese ließ es sich dennoch nicht nehmen, die Nachttoilette ihres Lieblinges zu besorgen, wie sie von jeher es gewohnt gewesen war. Obgleich mehr als zwanzig Hände sich herbei drängten, dieses Geschäft, das sie mit mütterlichem Eifer als unerläßliche Pflicht betrieb, ihr abzunehmen, so litt sie doch nie den mindesten Eingriff in ihre Rechte. Das ungemessenste Vertrauen des holdseligen Wesens, das in unbeschreiblicher Anmuth unter ihren pflegenden Händen gleichsam erblühte, lohnte überreichlich ihre treue Anhänglichkeit. Die junge Prinzessin hatte von frühester Kindheit an sich gewöhnt, Abends beim Auskleiden ihrer Elisabeth von allem, was sie den Tag über erfahren oder gethan, ausführlichen Bericht abzustatten; auch die Fürstin Eudoxia pflegte des Morgens, gleich nach ihrem Erwachen, sie zu sich zu berufen, um alles, was in dem unermeßlich großen Haushalte, und selbst in der Familie des fürstlichen Hauses sich ereignete, mit ihr allein zu besprechen. Und so war denn die gute Frau besser als irgend Jemand, die Fürstin selbst nicht ausgenommen, im Stande, alles im Ganzen zu überschauen, und nicht selten durch ihren Rath, oder selbst thätig, in die Leitung desselben einzugreifen.

Auch an jenem Abende versäumte Helena nicht, ihr Herz vor der treuen Amme auszuschütten; es war ihr dieses sogar mehr als sonst ein Bedürfniß; denn sie fühlte das Unrecht, das sie begangen, indem sie, wenn gleich Anfangs unabsichtlich, ihre Eltern belauschte, und sie schämte sich deshalb nicht wenig.