Indessen die Beichte wurde abgelegt, und daß Frau Elisabeth, als eine höchst moralische Person, sie darüber sehr ernstlich schalt und ermahnte, war dem guten frommen Kinde, als wohlverdiente Buße, eine Art von Trost. Doch die gute Amme konnte ihrem Lieblinge nicht lange zürnen; als sie die innere Zerknirschung desselben über den begangenen Fehler bemerkte, ging sie zu Beruhigungsgründen über und sprach so lange, so eindringlich, mit so sanft gemilderter Stimme, daß ihre Rede endlich wie ein Wiegenliedchen wirkte. Als Helena am andern Morgen erwachte, waren sowohl das, was sie von dem Gespräche ihrer Eltern vernommen, als die Ermahnungen und Tröstungen der Amme ihr fast ganz aus dem Gedächtniß entschwunden.

 

Die heimliche Liebe des jungen Fürsten Konstantin und der Prinzessin Natalia war für Helena längst kein Geheimniß mehr gewesen; denn welchem funfzehnjährigen Mädchen wäre ein solches, unter ihren Augen entstehendes Verhältniß jemals entgangen? in dieser Hinsicht hatte sie also aus dem Gespräche ihrer Eltern nichts erfahren, das ihr nicht schon bekannt gewesen wäre. Daß sie selbst ihrem Eintritte in die große Welt so nahe stehe, war ihr allerdings neu; denn mit ihrem Loose völlig zufrieden, hatte sie bis dahin noch gar nicht daran gedacht, und wußte auch jetzt noch nicht recht, ob sie sich darauf freuen, oder davor fürchten solle. Da aber doch erst von kommendem Winter die Rede gewesen war, bis zu welchem noch mehrere Monate vergehen mußten, – in ihrem Alter eine unermeßlich lange Zeit, – so hielt sie es für das Beste, auch jetzt noch nicht weiter darüber nachzudenken, und schlug mit ächt jugendlichem Frohsinne sich die ganze Sache fürs erste aus dem Kopfe.

Die Voranstalten zu dieser Hauptepoche in Helenas Jugendleben wurden indessen allmälig getroffen; aber ganz unmerklich langsam und leise; denn Eudoxia war eine zu weltkluge Dame, um nicht alles was sie unternahm mit großer Überlegung auszuführen. Natalias nahe Verlobung blieb fürs erste noch ein öffentliches Geheimniß, aber sie wurde jetzt doch, als eine ganz erwachsene junge Dame, in die Gesellschaft eingeführt. Ihre Erziehung wurde für vollendet erklärt, und dieses bot von selbst Gelegenheit, die große Tanzstunde aufhören zu lassen, die sonst wöchentlich im Palaste des Fürsten Andreas statt fand, und die gar bald in eine Art Gesellschaftsball sich umgewandelt hatte, zu welchem Moskaus heranwachsende brillanteste Jugend beiderlei Geschlechts, beinahe ohne andre Aufsicht als die des Tanzmeisters, sich versammelte.

Die großen musikalischen Übungen hatten aus dem nämlichen Grunde gar bald das nämliche Schicksal; und unter dem Vorwande einiger nothwendig damit vorzunehmender Reparaturen, wurde auch das kleine Haustheater einstweilen zugeschlossen.

So zog der Kreis, welcher Helenen von der fröhlichen blühenden Jugendwelt abschloß, sich immer enger zusammen, während die glänzendsten Feste in dem Hause ihrer Eltern sich mehrten, und Natalie als die Königin derselben glänzte. Madame Sommerfeldt wich ihrem Zöglinge fast nie mehr von der Seite; nur in ihrer Gegenwart durfte Helena die Besuche ihrer jungen Freundinnen annehmen, nur in ihrer, oder in der Fürstin Begleitung, sie erwiedern; Eugens Freunde waren, ohne daß dieses ausgesprochen worden wäre, durch diese neuen Einrichtungen aus ihrer Nähe gänzlich entfernt.

Alle diese Veränderungen wurden, ohne ein Wort darüber zu verlieren, gleichsam eine aus der andern entstehend, so ganz allmälig eingeführt, daß Helena derselben schon gewohnt worden war, ehe sie nur bemerkte, daß sie gegen sonst ein fast klösterliches Leben führe. Ihr heitrer, still zufriedener Sinn blieb dabei völlig unbefangen; war sie doch, vom Morgen bis zum Abend, auf eine Weise beschäftigt, die Langeweile und üble Laune fern von ihr hielt. Um die Zeit, die ihr bis zu ihrem Eintritte in die Welt noch übrig blieb, recht zu benutzen, waren fast alle Stunden ihres Unterrichts verdoppelt worden; sie las, zeichnete, malte, sang und spielte; Richard war nach wie vor bei ihren Übungen ihr zur Hand, so oft sie seiner bedurfte. Der Tag verging, der Morgen wurde zum Abende, ehe sie sich dessen versah; sie war zufrieden, als hätte sie nie anders gelebt.

Natalia, von Bewunderern umgeben, im Wonnetaumel der ersten Liebe, von einem glänzenden Feste zu einem andern eilend, wurde der vereinsamten jüngern Schwester bei dieser ganz verschiedenen Lebensart zwar etwas entfremdet, und mochte selten genug ihrer gedenken; doch Eugen und Richard vergaßen die Verlassene nicht. Auch sie waren jetzt in der Gesellschaft eingeführt, doch Richard entfernte sich aus derselben, sobald es der Anstand erlaubte, um der einsamen Helena ein Paar lange Abendstunden durch gemeinschaftliche Lectüre zu kürzen, und auch Eugen folgte ihm zuweilen. Richard schlich sich nicht heimlich zu ihr; der Fürst, die Fürstin, Alle wußten darum und gönnten ihr gern diese Erheiterung, während das ganze Haus in festlichem Glanze strahlte.

Madame Sommerfeldt war eines Abends zu einer Freundin geladen; eine sehr zahlreiche und brillante Assemblée wogte in den weiten Sälen des Palastes, während Richard sich früher als sonst zu Helena begeben, um mit ihr Walter Scotts Lady of the Lake zu lesen. Die Amme, welche diesmal, wie immer in solchen Fällen, die Stelle der Gouvernante bei der jungen Prinzessin vertrat, war eben im Begriffe, in ihrem weichen bequemen Armstuhle hinter dem großen Ofenschirme in sanften Schlummer zu gerathen, als ebenfalls weit früher als gewöhnlich, und augenscheinlich etwas verdrießlich, Eugen zu ihnen sich gesellte.

Sitzt Ihr doch da, als befändet Ihr Euch selbst auf einer unbewohnten Insel mitten in See, rief er, nachdem er einen Blick auf das Gedicht, welches sie mit einander lasen, geworfen; ist es hier doch so still, so heimlich, so ruhig; und keine funfzig Schritte von Euch tobt der langweiligste Saus und Braus, den man sich denken kann. Arme, kleine Helena, ich habe mich fortgeschlichen, um mich ein Stündchen bei Dir zu erholen, aber hier ist es doch gewaltig einsam und still! setzte er sich dehnend, mit schlecht verhehltem Gähnen hinzu; sage mir nur, was in aller Welt hat seit einiger Zeit unsre Mama bewogen, Dich wieder in die Kinderstube zu versetzen?

Helene versicherte, sich dabei sehr wohl zu befinden, auch Richard meinte, es wäre doch sonst fast zu lebhaft hier zugegangen, Eugen aber wollte das Alles nicht gelten lassen.

Warum müssen denn meine Freunde aus Deiner Gegenwart, Schwester, gänzlich verbannt sein? fragte er: warum treffe ich sogar Deine Freundinnen niemals mehr bei Dir an? warum darfst Du von ihnen nur förmliche Visiten annehmen und erwiedern? Was sind das alles für Neuerungen, und was ist der Grund davon? Sind doch alle Freuden, die sonst hier herrschten, uns wie abgeschnitten! Scherz und Spiel! Lachen und Tanz und Herzenslust! wo seid ihr hin! setzte er mit komischem Pathos, tragirend und deklamirend hinzu.

Das geht nicht mehr so, wie Du es wohl meinst; ich habe keine Zeit zu verlieren, wenn ich noch alles lernen soll, was ich lernen muß. Glaube mir, Bruder, die Langeweile plagt mich nicht, ich habe vom Morgen bis zum Abend vollauf zu arbeiten: erwiederte Helene, und sah ganz allerliebst altklug dazu aus.

Das alles ist wahr und gut; aber man muß doch auch nach der Arbeit seine Erholungsstunden haben: sprach Eugen.

Auch an diesen fehlt es mir nicht, wie Du siehst, erwiederte Helene, indem sie lächelnd auf Richard und das vor ihnen liegende Buch deutete.

Ich seh' es wohl, rief Eugen halb lachend, halb ärgerlich, Richard ist nun einmal der Auserwählte; aber warum können denn wir, ich und meine übrigen Freunde, nicht eben so. gut als er, uns mit Dir erholen?

Ich weiß es wohl und sag' es nicht, erwiederte Helene mit lächelndem Trotz, kreuzte die runden weißen Arme über einander, und lehnte, ein Liedchen summend, im Sofa sich zurück.

Kleines eigensinniges Ding, Du sagst es nicht? aber ich erfahre es doch, lachte Eugen, und holte mit schmeichelnder Gewalt die Amme aus ihrer dunkeln Ecke hinter dem Ofenschirme hervor. Mütterchen, liebe Alte, bat er, komm Du unser alles wissendes Hausorakel; komm, setze Dich hieher zu uns, weise, vielerfahrne Pythia, und beantworte mir die Fragen, auf welche der kleine Trotzkopf nicht antworten will.

Aber so thut doch nur die Augen auf, so könnt Ihr Eure Fragen Euch selbst gar leicht beantworten, sprach lachend die Amme; schaut Euch selbst nur an, und meine junge Gebieterin dazu; seid Ihr aus den beiden kleinen Bübchen, die mir mein Herzenskind oft genug umgerannt haben, nicht ein paar stattliche, junge Herren geworden? und meint Ihr, mein Prinzeßchen wäre hinter Euch zurückgeblieben? Urtheilt selbst, ob es für ein junges erwachsenes Fräulein sich wohl schicken würde, mit Euresgleichen Ball- und Pfänderspiel zu spielen. Oder soll sie etwa auch, wie ihre Schwester Natalie, in der großen Tanzstunde ihr Herzchen verlieren? wer kann wissen ob der, welcher es etwa aufnähme, den Eltern so genehm wäre, als Fürst Konstantin zum Glück es ist; und da hätten wir des Herzeleids genug; setzte die Amme, über ihre eigne Übereilung augenscheinlich erschreckend, hinzu.

Darum also? etwas mag daran sein, erwiederte Eugen langsam gedehnt. Nun, Freund Richard, setzte er hinzu, mache Dich also nur darauf gefaßt, nächster Tage wirst auch Du verbannt.

Das wird er nicht, gewiß nicht; fiel Helene sehr lebhaft ein.

Nicht? und warum er allein nicht? fragte Eugen.

Warum? das ist mir nicht recht klar; aber wäre das auch, ich sagte es doch nicht; übrigens weiß ich es gewiß, antwortete Helene.

Ich weiß es auch, nebst dem Grunde dazu, aber ich sage es ebenfalls nicht; mir ist als hätte ich schon zu viel gesagt; sprach mit bedenklichem Kopfschütteln die Amme.

Der Gouvernante Ankunft beendete dieses Gespräch, und Eugen begab sich mit seinem ziemlich nachdenklich gewordenen Freunde wieder zur Gesellschaft zurück.

 

Schon am folgenden Tage ließ Richard sein Nicht-Erscheinen an der Tafel mit einem unbedeutenden Unwohlsein entschuldigen; dennoch wieß er alle ärztliche Hülfe von sich ab. Trübe und einsam weilte er mehrere Tage lang in seinem Zimmer, ohne dasselbe zu verlassen; und sogar dem Einzigen, dem er den Zutritt nicht versagte, weil er sich nicht abweisen ließ, sogar seinem Freunde Eugen gelang es nicht, ihm ordentlich Rede abzugewinnen. Mit allen Bitten und Fragen war nichts weiter aus Richard herauszubringen, als fast ängstliches Flehen, Geduld mit ihm zu haben, ihn nur noch wenige Tage sich selbst zu überlassen, und Versicherungen, daß er gewiß sehr bald gesunden werde, wenn man ihm nur erlauben wolle, kurze Zeit ganz einsam zu bleiben.

Eugen verkannte den Ausdruck tiefen innern Leidens an seinem Freunde nicht, aber er sah auch, daß nicht eigentliches Kranksein, kein physischer Schmerz, diesem Leiden zum Grunde liege. An Verzweiflung gränzender Gram, namenloses Seelenleiden, furchtbarer Kampf sich widerstrebender Gefühle, tobten im innersten Gemüthe des Unglückseligen. Eugen sah es wohl, aber er wußte den Grund dazu auf keine Weise sich zu erklären.

Er gab es auf, den Freund, dessen täglich mehr verfallende Gestalt mit banger Besorgniß ihn erfüllte, mit Fragen länger zu quälen, die immer nur mit rührenden Bitten um Nachsicht, um Geduld, um Einsamkeit, erwiedert wurden; aber er fing an, ihn mit scharfer Aufmerksamkeit zu beobachten, um zu errathen, was man ihm nicht bekennen wollte. Oft überfiel er ihn in seinem Zimmer, wenn Richard sich dessen am wenigsten versah, und wenn er in später Nacht vom Balle oder von andern Festen zurückkehrte, blieb er lauschend an Richards Thüre stehen. Gewöhnlich hörte er ihn dann noch mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und abgehen, oft sogar laut und vernehmlich mit sich selbst sprechen, eine Gewohnheit, welche Richard von seiner Kindheit an gehabt hatte. Ein verborgner Sinn lag in Richards Worten, das ließ sich nicht ableugnen, aber wie diesen heraus finden? Zuweilen brach er auch in halb ersticktes bittres Lachen aus, und der Gedanke, irgend ein großes unbekanntes Unheil sei über seinen Freund hereingebrochen, das bei dieser ängstlichen Art es zu verhehlen ihn dem Wahnsinne zuführen könne, erfüllte den lauschenden Eugen mit unbeschreiblichem Grauen.

Thor, blinder erbärmlicher Thor! die sprechendsten Beweise unbegränzter Verachtung treffen dich, und du nimmst sie für Auszeichnung, für Gunstbezeigungen, und triumphirst darüber innerlich! ist es nicht zum Todtlachen? sprach Richard einst heftig bewegt zu sich selbst. Willst du es denn wirklich abwarten, daß man in den Sumpf dich zurückwirft, aus welchem man zu augenblicklichem Gebrauche dich gezogen? setzte er nach einigem Schweigen, mit gedämpfter Stimme, fast flüsternd hinzu.

Der Schooshund darf in der vornehmsten Gesellschaft am Ofen liegen bleiben, die Hauskatze darf in allen Winkeln herumschnurren, und an die Füße der Herrin sich vertraulich schmiegen, was thut es? was ist an solchen Hausthieren gelegen? wer achtet auf sie? sprach er einst im Tone ruhiger Überlegung. Sie haben es sehr gut in der Welt, denn sie amüsiren, fuhr er weiter fort; sie werden gepflegt, gefüttert, gestreichelt, sie haben es ganz außerordentlich gut, diese Thiere. Warum sollte ein Mensch es nicht eben so gut haben wollen, wenn er es haben kann? Geduldet werden, weil man zu unbedeutend ist! es ist das bequemste Leben von der Welt, setzte er ironisch lachend hinzu.