Wie kam dieser alte »Waldbär« – vielleicht war er doch kein gewöhnlicher Waldaufseher, wie sein Äußeres vermuten ließ, sondern wirklich ein wohlbestallter Förster – aber wie kam ein schlichter Förster zu einer solchen Tochter mit diesem zierlichen Wuchs und diesem holden Gesichtchen – und noch mehr: zu einer Tochter in so vornehm gewählter Kleidung, mit schwedischen Handschuhen und dem eleganten Schuhwerk. Dieses Kleid und was dazu gehörte – das wog den halben Jahresverdienst eines Försters auf! Da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: eine Theaterprinzessin? Er wußte nicht, warum er diesen Gedanken so unangenehm empfand, fast wie einen Schmerz. Aber nein! Er durfte nur in diese strahlenden Augen blicken, auf diesen kindlichen Mund, um den sinnlosen Einfall wieder zu verwerfen. Dadurch wurde die Sache für ihn noch unbegreiflicher. Der alte »Waldbär«, den er dort oben gefunden – der war echt! An dem war nicht zu zweifeln! Das Rätsel war dieses Mädchen.
Schon wollte Forbeck eine Frage stellen, da ließen sich vor der Klause hastige Schritte vernehmen. Es wurde finster in der Tür, und Gundi Kleesberg stolperte über die Schwelle. »Kitty –« Nun sah sie den jungen Maler – das Licht des Fensters fiel hell auf sein Gesicht – und Gundi Kleesberg taumelte an die Wand, erschrocken wie vor dem Anblick eines Gespenstes.
Verwundert blickte Forbeck auf die ihm fremde Dame, und Kitty stellte ihr Lachen ein. »Tantchen? Was ist dir?«
Gundi Kleesberg schien sich zu erholen.
»Aber so sprich doch! Was ist dir?«
»Nichts, nichts! Wer ist – dieser Herr?«
»Herr Maler Forbeck!« stammelte Kitty, während der junge Mann sich verbeugte. Um über den unbehaglichen Augenblick hinüberzukommen, faßte Kitty das Skizzenbuch. »Tante Gundi, ich muß dir was zeigen, was Herr Forbeck gezeichnet hat, du wirst Augen machen –«
Die Kleesberg hatte beim Klang dieses Namens, den sie noch nie in ihrem Leben gehört, erleichtert aufgeatmet. Scheu ließ sie die Augen an dem jungen Mann emporgleiten und schüttelte den Kopf.
»Tantchen, sieh doch!«
Beim Klang dieser Stimme war Gundi Kleesberg plötzlich ihrer Stimme mächtig. Mit dem Zorn einer Furie schoß sie auf Kitty zu, umklammerte ihre Hand und schüttelte sie, daß das Skizzenbuch zu Boden fiel. »Laß das! Und komm! Das ist kein Ort für dich!« Über Forbecks Gesicht flog brennende Röte. Dann hob er schweigend das Buch von der Erde.
»Aber Tante?« stammelte Kitty verlegen.
»Komm!« In ungestümer Hast zog die Kleesberg das junge Mädchen zur Tür hinaus.
Kitty Lippen zuckten. »Aber Tante Gundi! Herr Forbeck –«
»Komm!« Gundi Kleesberg hielt fest und suchte so schnell als möglich aus der Nähe der Klause zu kommen.
»Aber Tante, ich bitte dich! Herr Forbeck hat mich doch gerettet! Was muß er denken von mir!«
»Komm nur!« Tante Gundi schlug einen bei ihrer Schwerfälligkeit überraschenden Sturmschritt an. Das Staunen machte Kitty verstummen. Seit jenem Tag, an welchem Adelgunde von Kleesberg aus dem Stift gekommen war, um sich in eine sehr weitschichtige »Tante« zu verwandeln und die Obhut über das junge mutterlose Mädchen zu übernehmen – seit jenem Tage bis zu dieser Stunde hätte Kitty niemals ahnen mögen, daß in diesem »fleischgewordenen Schaukelstuhl« – wie Graf Egge das alte Fräulein getauft hatte – eine so wieselflinke Beweglichkeit verborgen läge. Kitty meinte ein Wunder zu sehen. Halb schmollend, halb lachend, ließ sie sich von Tante Gundi weiterziehen. Einmal blickte sie wohl über die Schulter zurück, aber die Klause war schon hinter der Felswand verschwunden.
Da kam auch Franzl vom Seeufer hergelaufen und rief: »Ich hab a Schiffl!«
»Gott sei Dank!« Gundi Kleesberg verhielt den stürmischen Schritt. Ihre Kräfte waren zu Ende.
3
Langsam glitt der Nachen über den stillen See, der unter den sinkenden Schatten des Abends in tiefgrünen Farben spielte. Hinter dem Schifflein lagen die den halben See umziehenden Berge mit ihren schwarzen Fichtenwäldern, mit den grauen Wänden und den grünen Almen in der Höhe, auf denen noch helle Sonne lag. Am Ufer, dem der Nachen entgegensteuerte, sah man einen belebten Gasthof und eine Reihe weißer Villen, aus deren einer die Solfeggien einer herrlichen Altstimme und die Töne eines Flügels erklangen. Hinter den roten Dächern der Villen dehnte sich ein welliges Gelände mit den zerstreuten Häuschen und Gehöften des Dorfes. An ihre Gärten schloß sich, von einer roten Mauer umzogen, ein weitgedehnter Park, über dessen kugelige Ulmenwipfel sich das Dach und die Türmchen von Schloß Hubertus erhoben.
Von den Insassen des Nachens achtete niemand der Schönheit dieses Bildes, das nach dem reinigenden Gewitterregen in seinen Farben so frisch und so neu erschien, als wäre es eben jetzt aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen. Der alte Schiffer führte, im Spiegel des Bootes stehend, in gleichmäßigem Takt das Ruder; Franzl, der auf dem Schnabel des Schiffes ein nicht sehr bequemes Plätzchen gefunden, wischte mit dem Ärmel die Rostflecken von dem Lauf seiner Büchse; und Kitty saß, dem Stiftsfräulein den Rücken kehrend, in schmollendes Brüten versunken. Plötzlich erwachte sie. Franzl hatte sie leis auf das Knie getippt und flüsterte: »Schauen S' das alte Fräuln an!« Kitty blickte über die Schulter zurück und erschrak vor dem kummervollen Anblick, den Tante Gundi bot. Breit lag ihr das rote Doppelkinn auf dem schwer atmenden Busen, tiefe Furchen kreuzten die Mundwinkel, und über die welken Wangen, von denen auch die letzte Spur der Schminke geschwunden war, kollerten dicke Perlen. Waren es Schweißtropfen oder Tränen? Wohl beides zugleich.
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