Aus dem zerfallenen Gesichte redete die Sprache eines tiefen, bedrückenden Schmerzes.
Das fühlte Kitty, und im Augenblick war ihr Groll vergessen. Hurtig schwang sie die Füßchen über das Brett und faßte die Hände des Fräuleins. »Tante Gundi! Was hast du?«
Die Kleesberg sah mit verstörten Augen auf, als hätte man sie bei einer bösen Tat ertappt. »Laß mich, du –« Sie wandte mit einem übelgelungenen Versuch von Würde das Gesicht und blickte krampfhaft ins Wasser, um ihre Tränen zu verbergen.
Kitty schwieg. Mit scheuer Sorge hingen ihre Augen an Tante Gundi, und im stillen begann sie sich Vorwürfe zu machen. Sie wußte sich freilich keiner anderen Sünde zu zeihen als der einzigen, daß sie in der begreiflichen Ungeduld, nach langer Trennung den Vater um eine Stunde früher zu sehen, die erste Ursache zu dem für Gundi Kleesberg so übel verlaufenen Abenteuer gegeben hatte. An allem anderen war sie schuldlos. Alles andere war gekommen – sie wußte selbst nicht wie!
Knirschend fuhr der Nachen an das Ufer. Kaum hatte die Kleesberg festen Fuß unter sich, und kaum gewahrte sie die Gruppen der Schiffer und Sommergäste, da hatte sie ihre verlorene Fassung wiedergefunden. Der Seewirt, der die zum Schloß Hubertus gehörige Fischerei in Pacht hatte, kam gerannt, um den »gnädigen Damen« seine Aufwartung zu machen. Kitty reichte ihm freundlich die Hand, Gundi Kleesberg rauschte an ihm vorüber, mit dem Aplomb einer Königin, deren Würde mehr in die Breite ging als in die Höhe.
Franzl schwang die Büchse auf den Rücken und wanderte davon. Bald verstummte hinter ihm der Lärm des belebten Ufers, und zwischen Haselnußstauden ging sein Weg über stille Wiesen. Ein paar hundert Schritte trennten ihn noch von seinem Haus. Nun führte der Fußweg gegen einen hohen Zaun, bei dem ein paar rohgezimmerte Stufen den Überstieg erleichterten; und drüben lag ein schmaler, von zwei tischhohen Bretterplanken eingefaßter Pfad.
Da hörte Franzl über den Zaum her eine Männerstimme – sie redete jene zweifelhafte Bauernsprache, die der Jäger manchmal in den Sennhütten von jungen Touristen zu hören bekam – und ihr erwiderte eine zornige Mädchenstimme: »Aus'm Weg, du!«
Neugierig drückte Franzl die Haselnußzweige auseinander und gewahrte einen kniemageren Touristen, dessen Rucksack, Joppe und Lederhose an diesem Tage wohl zum erstenmal die Berge erblickt hatten; quer in den Händen hielt er einen wahren Baum von Bergstock, mit dem er einem jungen, schmucken Mädel den schmalen Pfad verlegte.
»'s Zollheben is 'n alter Brauch,« erklärte der kühne Wegelagerer in seinem zweifelhaften Dialekt, »und drum sog i dir, du saubers Diandl, du kommst mir nit ummi, eh du nit dein Zoll zahlt hast.«
»Gehst aus'm Weg?«
»Nit um die Welt. Da müßt ich woltern erscht von dein süßen Göscherl mein Bussarl haben! Und wann du's nit gern gibst –«
Da griff das Mädel mit zwei gesunden Fäusten zu. »Wart, dir gib ich a Bußl, du Zibebenkramer!« Zuerst machte der Bergstock einen Purzelbaum, dann sein Besitzer; die morsche Bretterplanke krachte, und hinter ihr verschwand der besiegte Ritter, daß für eine kurze Weile nur noch seine frisch genagelten Schuhe zu sehen waren.
Das Mädel wischte die Hände über die Hüften, näherte sich dem Überstieg, hörte das Gelächter des Jägers und gewahrte über dem Zaunrand sein braunes Gesicht mit den lustigen Augen, die in Wohlgefallen an ihr hingen.
Franzl erkannte sie nicht, sie mußte eine Auswärtige sein. Das gestrickte braune Leibchen, das die Brust und die runden Arme knapp umschloß, und die weiße Halskrause – das war fremde Tracht. Aber woher auch immer, sie war in einer Luft gewachsen, die gesund und sauber macht. Und wie gut der halbverrauchte Zorn zu ihrem frischen, sonnverbrannten Gesichte stand, zu den blaugrauen Augen und der festen Stirn, über der die blonde Haarkrone sich so bedenklich verschoben hatte, daß die schweren Zöpfe zu fallen drohten.
Der erste Blick, den sie auf den Jäger geworfen, war kein sonderlich freundlicher gewesen. Sie schien eine neue Wegsperre zu befürchten. Doch sein Lachen wirkte ansteckend, und sie lachte mit.
»Madl! Den hast bös auszahlt.«
»Wie's ihm ghört hat! So a Grashupfer! Aber z'erst, da bin ich a bißl erschrocken.«
»Hättst kein Kummer net haben brauchen. Wann's gfehlt hätt, wär schon ich bei der Hand gwesen.«
Sie nickte ihm freundlich zu. »Vergeltsgott! Aber es hat's net braucht. Der hat net amal 's Schneidergewicht. Den muß man mit Schmalz einreiben, daß er fett wird. Wo is er denn?« Sie guckte über die Schulter; als sie den Pfad noch immer leer sah, meinte sie besorgt: »Er wird doch nit ungut gfallen sein?«
»Gott bewahr! Grad rappelt er sich in d' Höh!«
Hinter der geknickten Bretterplanke erschien der grasgrüne Spitzhut mit der trauernden Hahnenfeder.
»No also!« Mit diesem Wort schien die Sache für sie erledigt. An dem Gezweig eine Stütze suchend, stieg sie auf die Kante des Zaunes, faßte die Hand, die ihr der Jäger reichte, und sprang zu Boden.
»Bhüt dich Gott, Jager!« grüßte sie lächelnd.
»Bhüt dich Gott auch!«
Sie schritt davon, und Franzl sah ihr betroffen nach. Nun plötzlich, an ihrem Lächeln, war ihm etwas aufgefallen; er mußte sie schon einmal gesehen haben.
Nach wenigen Schritten blieb sie stehen und sah sich um. Die Augen der beiden trafen sich, und eines schien dem andern sagen zu wollen: »Mir scheint, ich müßt dich kennen!«
Aber sie schwiegen, und das Mädel ging; hinter den Haselnußstauden verschwand es; nur ein paarmal leuchtete zwischen dem Grün noch die weiße Schürze.
Franzl schob von hinten den Hut in die Stirn; das tat er immer, wenn er zu denken hatte. Dann stieg er über den Zaun und folgte dem eingeplankten Pfad.
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