Was ich gesehen habe, war Licht, Farbe, etwas ganz unbeschreiblich Schönes.« Die Augen schließend, rührte er mit den Fingern an die durchsichtigen Lider. »Aber hier sitzt es, fest! Und ich weiß, ich bring' es heraus.«
Rauschend kam der Abendwind über die Felsen niedergezogen; die Äste der Bäume schwankten und schüttelten die Regentropfen ab.
Erschrocken deckte Kitty den Arm über das Skizzenbuch, denn ein paar große Tropfen, wie Tränen, waren auf das Blatt gefallen. Und als der Wind die Bäume wieder zauste, sprang Kitty auf und flüchtete mit dem Buch in die Klause.
Der junge Mann folgte ihr, und da saß sie schon an dem roh gezimmerten Tisch und tupfte achtsam mit dem Handschuh die auf das Papier gefallenen Tropfen fort. »Es hat nichts geschadet!« versicherte sie lachend und hielt das Buch schief gegen das Licht des Fensters. »Man sieht nur noch ein wenig die feuchten Flecke.« Wieder vertiefte sie sich in die Betrachtung des Bildchens; dann begann sie im Skizzenbuch zurückzublättern; ein paar Studien hatte sie bestaunt, als sie plötzlich aufblickte und verlegen fragte: »Darf ich denn?«
Er nickte lächelnd und trat an ihre Seite. Das Licht, das durch Tür und Fenster fiel, hatte in dem geschlossenen Raum schon einen Schleier der beginnenden Dämmerung.
Ein seltsame Stimmung webte zwischen den Mauern und erzählte von erlöschenden Erinnerungen. Neben dem Tische standen nur zwei plumpe Holzbänke in dem kahlen Raum; doch es war ihm anzumerken, daß er in vergangener Zeit einen freundlicheren Anblick geboten hatte. Die Decke war noch von einer zart geblumten Tapete bedeckt; aber das Regenwasser, das durch die Lücken des Daches gedrungen, hatte häßliche Flecken gebildet. Auch an den Wänden hingen noch Streifen der Tapete, mit Hunderten von Namen bedeckt. Wer hier im Lauf der Jahre vor Sonne oder Regen Schutz gesucht, Sommergäste, Touristen, Jäger, Sennerinnen, Almbauern und Schiffer, alle hatten den Drang empfunden, ihre Namen an diesen geduldigen Wänden zu verewigen. Viele Namen standen paarweise, von einer Herzlinie umschlungen. Hatten die Träume, die aus diesem Zeichen redeten, sich erfüllt? Oder war das Leben über sie hinweggerollt wie die glättende Eisenwalze über den Kies der Straße? Von manchem, der vor Jahr und Tag seinen Namen an diese Wand geschrieben, mochte nichts anderes mehr übrig sein als nur der Name.
Inmitten dieser toten Vergangenheiten klang Kittys helle Stimme, ihr Lachen und die Freude, mit der sie jede Skizze begrüßte, deren Modell sie erkannte. Bald fand sie eines ihrer Lieblingsplätzchen am See, eine Straße oder ein Häuschen des Dorfes, bald wieder Köpfe und Gestalten, die einen fremd, die anderen ihr wohlbekannt. Mehrere der Skizzen waren mit dem Namen des Künstlers gezeichnet: Hans Forbeck. Kitty blätterte weiter. Flüchtige Wolkenstudien, Baumschläge und Gebirgsveduten wechselten mit Skizzen, deren wirre Linien sie nicht verstand: Bilderideen, mit ein paar hastigen Strichen festgehalten.
Wieder wandte Kitty eines der Blätter. Und erschrocken stammelte sie: »Wie traurig!«
»Die Stubenarbeit eines Regentages!« sagte er leise, fast entschuldigend.
Die Zeichnung des Blattes war sorgfältiger als die der anderen Skizzen, die graue Arbeit des Stiftes mit zarten Farbtönen überhaucht. Eine öde, fast unabsehbare Heide, dürr und kahl; der Himmel ist mit schwerem Gewölk bedeckt, durch dessen spärliche Klüfte kaum eine matte Helle quillt, wie eine Ahnung des verschleierten Lichtes. Über die Heide führt ein rauher Steinpfad, von niederem Dorngestrüpp umwachsen. Und auf dem Pfade liegt, halb zur Erde gesunken, mit aufgestütztem Arm und das entkräftete Haupt gegen die Schulter geneigt, die Gestalt einer Genie, todmüde und schmerzverloren, in Lumpen gehüllt, mit zerzausten Schwingen.
Kitty hob die Augen. »Herr Forbeck?« Schüchtern sprach sie seinen Namen aus. »Was soll das vorstellen? Das Unglück?«
»Nein.« Er zögerte. »Meine Kindheit.«
Nun verstand sie, was aus seinem Gesicht beim ersten Anblick zu ihr gesprochen hatte. Ein leises Zucken ging um ihren Mund. Sie mußte der eigenen Kindheit denken. Auch ihrer Kindheit hatte die Liebe gefehlt, die Liebe der Mutter. Vor dreizehn Jahren war ihre Mutter in der Fremde gestorben – auf einer Reise, hatte man ihr gesagt.
Sie senkte die Augen auf das Blatt. »Wie traurig das ist!« Zwei Tränen rannen ihr langsam über die Wangen.
Mit unbehilflichem Lächeln wandte Forbeck sich ab und trat unter die offene Tür.
Leise schwankten die Zweige der Bäume; der Fall der Tropfen, der von ihnen niederging, begann schon zu versiegen. Auch das Rauschen des Wetterbaches schien sich bereits zu dämpfen; aber der Lärm seiner Wellen war noch immer laut genug, um die beiden Stimmen zu übertäuben, die vom jenseitigen Ufer herüberklangen.
Franzl hatte die Kleesberg glücklich durch den Wald heruntergebracht. Das war ein hartes Stück Arbeit gewesen, um so härter, da Franzl zur Stütze für seinen jammernden Schützling nur den einen Arm frei hatte; unter dem andern Arme schleifte er ein schweres Brett, das er von der Wildscheune losgerissen hatte, um über den von Felsblöcken durchsetzten Wildbach einen Steg zu bauen.
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