»Behalt das von der fremden Frau!« sagte sie; »doch halt!«, und sie sammelte ein Häuflein kleiner Münzen und drückte die Finger des Kinderfäustleins darum zusammen; dann, während der kleine Flachskopf ihnen stumm mit großen Augen nachsah, ging die Gesellschaft weiter.

Sie gingen wiederum gepaart wie damals auf Annas Heimatsflur, nur daß diese jetzt wiederholt den Kopf zurückwandte und erst, wenn sie einen Blick von Rudolf aufgefangen hatte, das Gespräch mit Bernhard fortsetzte, das ohnehin nicht recht in Fluß geraten wollte. Rudolf freilich beobachtete auch heute unablässig die Vorangehenden und wog bei sich den Ton in Bernhards und in seines Weibes Stimme; aber es war kein unruhiges Verlangen, nur ein leidvolles Entsagen sah aus seinen dunklen Augen.

»Sie wollten nicht zanken, Herr von Schlitz«, sagte neben ihm die Stimme seiner Partnerin ; »aber Sie sind völlig stumm geworden.«

Er wollte eben ein höfliches Wort erwidern, als sie aus der Enge eines mit Hagebuchenhecken eingezäunten Weges heraustraten und nun vor einer weiten Moorfläche standen, auf der hie und da eingestürzte Torfhaufen zwischen blinkenden Wassertümpeln lagen. »Das haben die Gewitterregen uns verwaschen«, sagte Bernhard; »aber wir müssen umkehren, der Weg, der hier am Moor entlangführt, ist nicht für Damenschuhe eingerichtet.«

Rudolf war ein paar Schritte auf dem bezeichneten Wege fortgegangen. »Für uns Männer wird's schon taugen«, sagte er, sich zu Bernhard wendend; »die Damen werden uns entschuldigen; nicht deinen Torf, aber von deinen Jagdgründen möchte ich hierherum noch etwas sehen.«

»Wenn du willst«, meinte Bernhard; »aber es ist nicht viel damit.«

»Nun, so reden wir ein Stück mitsammen!«

Anna blickte ihn an: Was wollte Rudolf? Mit Bernhard allein sein? – Auf seinem Angesicht war nichts zu lesen; nur der beklommene Ton, den sie in seiner Stimme bemerkt zu haben glaubte, schien zu dem einfachen Inhalt seiner Worte nicht zu passen. Aber – es war ja Bernhard; was konnte zwischen ihm und Bernhard Übles denn geschehen! Wie ein Morgenschein leuchtete das Vertrauen zu ihrem Jugendfreunde auf ihrem schönen Antlitz; lächelnd nickte sie den beiden Männern nach, dann nahm sie Juliens Arm, um mit ihr den Rückweg anzutreten.

»Das ist die Rache«, sagte sie scherzend; »vor einem Jahre waren wir es, die sie im Stiche ließen.«

Aber Rudolf und Bernhard redeten nicht miteinander, und die Jagdgründe wurden weder besichtigt noch aufgesucht. Schon lange waren sie schweigend auf dem durch tiefe Wagenspuren zerrissenen Wege fortgegangen, beide die Augen nach der untergehenden Sonne gerichtet, die mit ihren letzten Strahlen das braune Heidekraut vergoldete. Eine Nachtschwalbe mit ihrem lautlosen Fluge huschte vor ihnen auf und duckte sich eine Strecke weiter von ihnen auf den Weg, bis sie wiederum auch hier vertrieben wurde. »Weshalb«, begann endlich Bernhard, wie nur um überhaupt ein Wort zu sagen, »seid ihr nicht im Sommer zu uns gekommen, als die Heide blühte und das Korn geschnitten wurde? Deine Frau schrieb einmal darüber meiner Schwester; aber ihr kamt doch nicht.«

Rudolf, der neben ihm ging, blieb einen Schritt zurück. »Du weißt«, sagte er, »es war von beiden Seiten etwas zu verwinden.«

Der andre zuckte, und seine Hand zitterte, mit der er sich den starken Bart zur Seite strich : »Also Anna hat es dir mitgeteilt, daß ich so beschämt vor ihr gestanden?«

»Du meinst, sie sollte ein Geheimnis mit dir teilen!«

»Nicht das, Rudolf«, sagte Bernhard ruhig; »aber was nützte es dir, zu wissen, daß ich soviel ärmer bin als du?«

Rudolfs letzte Worte waren jäh herausgefahren; jetzt trat er wieder an Bernhards Seite. »Du kamst zu spät«, sagte er; »dasselbe hätte mir geschehen können; und – wenn es so gekommen wäre, ihr wäre dann wohl ein glücklicheres Los gefallen.«

Die lang bedachten Worte waren ausgesprochen; aber seine Stimme wankte, und seine Augen, mit denen er, jetzt stehenbleibend, den andern anstarrte, waren wie versteint.

Bernhard sah ihn fast entsetzt an. »Mensch«, schrie er, »wie kannst du, der Glückliche, so etwas zu mir sprechen?«

Rudolf beantwortete diese Frage nicht. »Bernhard«, sagte er leise, »du liebst sie noch; gesteh es, daß du sie noch liebst!« Ein feindseliges Feuer brannte in seinen Augen, aber er drängte es mit Gewalt zurück.

Bernhard hatte nichts davon gemerkt; er sagte düster: »Du solltest doch der letzte sein, der daran rührte.«

»Nein, nein, Bernhard, du irrst! Sich nicht auf mein Gesicht; aber glaub es mir: es tut mir wohl, daß du sie liebst«; und er ergriff Bernhards beide Hände und drückte sie heftig; »nun weiß ich, du wirst sie nicht verlassen.«

Der andere erhob langsam das Haupt: »Was willst du, Rudolf? Weshalb bist du heute zu mir gekommen? – Gewiß, wenn Anna jemals meiner bedürfte; wenn deine Hand nicht mehr da wäre, ich würde Anna nicht verlassen, nicht – solang ich lebe.«

Rudolf hatte beide Hände vors Gesicht gedrückt. »Ich danke dir«, sagte er leise; »wollen wir jetzt zurückgehen?«

Es geschah so; und die grauen Schleier der Dämmerung breiteten sich immer dichter über Moor und Feld. Rudolf hatte seinen Zweck erreicht: was er bisher nur geglaubt hatte, war ihm jetzt Gewißheit; das übrige, er sagte es sich mit Schaudern, würde sich von selbst ergeben.

Auch Bernhard war in tiefem Sinnen neben ihm geschritten.

»Aber«, begann er jetzt, nachdem sie vom Moore wieder zwischen die Felder hinausgelangt waren, »wie sind wir doch in ein solches Gespräch geraten? Du lebst und bist gesund; weshalb sollte Anna anderer Hülfe bedürfen?«

Rudolf hatte diese Frage erwartet, ja, er hatte sich künstlich darauf vorbereitet; jetzt, da sie wirklich an ihn herantrat, machte es ihn stutzen; ein Gefühl wie bei unredlichem Beginnen überkam ihn, es war schon recht, daß die zunehmende Dunkelheit sein Angesicht verdeckte. »Ich habe dir wohl schon davon gesprochen«, sagte er, »daß ich meinen Vater plötzlich durch einen frühen Tod verlor; es war ein Herzleiden; einem und dem andern unserer Vorfahren ist es ebenso ergangen; allerlei Symptome waren vorausgegangen – – ich war noch ein Kind; aber später hat meine Mutter mir es erzählt, in den letzten Monden hab ich ganz dasselbe auch bei mir bemerkt; es geht mir nach, ich könnte auch plötzlich so hinweggenommen werden.«

Bernhard ergriff seine Hand, deren herzlichen Druck er nicht zu erwidern wagte: »Aber weshalb ziehst du nicht einen Arzt zu Rate, einen Spezialisten?«

»Ich tat es ; neulich bei Gelegenheit meiner Geschäftsreise.«

»Und er hat dir keinen Trost gegeben?«

»Doch, was so die Ärzte schwatzen, aber ich weiß es besser.«

Noch einmal empfand er Bernhards Händedruck, in welchem alle Versicherung eines treuen Herzens lag.

– – Ein paar Stunden später befanden die Förstersleute sich wieder auf der Rückfahrt. Anna saß an ihres Mannes Seite das Haupt geneigt, wie in Gedanken eingesponnen: Rudolf und Bernhard – ihr war es immer wieder, als sähe sie die beiden in der sinkenden Dämmerung an dem Moore entlanggehen ; sie meinte die erregte Stimme ihres Mannes, die beschwichtigende ihres Jugendfreundes zu vernehmen; nur die Worte selbst – ja, wenn sie nur die Worte hätte hören können! Sie war ja jung, sie fürchtete sich nicht; nur wissen mußte sie, wo sie das Unheil fassen könne. Aber – auch Bernhard mußte ja von allem wissen; hatte doch auch er, der noch am Nachmittage wie in früherer Zeit mit ihr geplaudert hatte, beim Abendessen kaum ein Wort oder doch nur wie gezwungen zum Gespräche beigetragen! Einen Augenblick war's, als ständen ihr die Gedanken still, dann aber richtete sie sich mit einem tiefen Atemzuge auf; gleich morgen – sie wußte keinen andern Ausweg- wollte sie an Bernhard schreiben. »Wo sind wir, Rudolf?« frug sie und sah mit klaren Augen um sich.

Rudolf schrak empor, als würde er aus schwerem Traum geweckt, und wieder, wie auf dem Hinwege, fuhr das Pferd in der Deichsel auf. Ein paar Schläge mit der Peitsche, dann wies er schweigend nach den Wäldern, die sich einige Büchsenschüsse weit zu ihrer Rechten gleich einem düsteren Wall entlangzogen. Darüber stand der volle Mond, der in der weichen Herbstnacht ein fast goldenes Licht über die schlafenden Fluren ausgoß. »Wie schön!« sagte Anna. »Ist das da drüben euere Wildnis? Armer Rudolf, die wird dir wohl noch viel zu schaffen machen!«

Er hatte den Kopf zu ihr gewandt; und er sah sie an, als ob er keine Antwort darauf habe. Sie bemerkte es nicht; das Tuch um ihre Schultern war herabgeglitten, und sie mühte sich, es wieder festzustecken. Als sein Blick auf ihre unverhüllte Hand fiel, deren schöne Form das milde Nachtgestirn mit seinem Licht verklärte, zuckte es um des Mannes Lippen, und seine Augen wurden wie vor Schmerz gerötet.

Der Weg zog sich dichter an die Wälder, und bald rollte der Wagen in ihrem Schatten; das Mondlicht fiel jetzt über sie hin auf die weiter seitwärts liegenden Wiesen; eine weidende Kuh brüllte ein paarmal von dort herüber. »Zu Hause!« sagte Anna, ihre Reisehüllen von sich streifend, »wir sind gleich zu Hause!«

Als bald darauf der Wagen anhielt, trat von der Haustreppe die Magd in augenscheinlicher Hast heran: die Frau Forstjunkerin seien abends angekommen, aber vor einer Stunde schon zur Ruh gegangen ; Frau Försterin möge sich nur ganz beruhigen, Sie hätten ihr, der Magd, den Speisekammerschlüssel ja gelassen, es habe der gnädigen Frau an nichts gefehlt.

Rudolf, der schon neben dem Wagen stand, war totenbleich geworden; wäre der Schatten des Hauses nicht gewesen, so hätte Anna es gewahren müssen. »Jetzt schon!« kam es kaum hörbar über seine Lippen; dann hob er das junge Weib herab und sagte laut: »So muß ich morgen früh heraus!«

»Morgen, Rudolf? Aber du bist dann zeitig doch zurück?«

Er war schon in das Haus getreten, und Anna folgte mit der Magd, den Kopf jetzt voll Gedanken an die Gegenwart der Mutter, deren Beistand sie nicht mehr in Rechnung nahm.

Es war noch dunkel, als vor Anbruch des Morgens neben dem Bette der schlummernden jungen Frau sich ein schweres, überwachtes Haupt aus den Kissen hob. Bald darauf – ein dichter Nebel draußen machte die erste Dämmerung noch fast zur Nacht – trat Rudolf leisen Schrittes in sein Zimmer; tastend, mit unsicherer Hand, zündete er die auf dem Tische stehende Lampe an, bei deren Scheine jetzt sein blasses Antlitz mit den brennenden Augen aus dem Dunkel trat.

Nachdem er die Klappe des am Fenster stehenden kleinen Pultes aufgeschlossen und eine Lage Papier herausgenommen hatte, setzte er sich daneben an den Tisch und begann zu schreiben. Eine amtliche Arbeit schien es nicht zu sein, denn er hatte weder Pläne noch Rechnungen dabei zugezogen. Mitunter stützte er den Kopf, und ein tiefes Stöhnen übertönte das einförmige Geräusch der rastlos fortschreibenden Feder; dann fuhr er wohl empor und blickte hastig um sich und wandte das Ohr nach der Richtung des vorhin verlassenen Schlafgemaches; aber nichts rührte sich in dem stillen Hause: Anna mußte von der gestrigen Reise sehr ermüdet sein, sogar die Magd schien sich heute zu verschlafen; und schon begann ein graues Morgendämmern vor den unverhangenen Fenstern.

Endlich stand er auf, hob wiederum die Klappe des Pultes und legte das Geschriebene hinein. Aber es war ihm das nicht gleich gelungen, denn seine Hand zitterte jetzt so stark, daß er sie an dem eisernen Überfall des Schlosses blutig gestoßen hatte.