Plötzlich machte er eine ausweichende Bewegung. »Der Hund!« sagte er leise. »Noch nicht! Ich warte nicht auf dich.«
Da schlug es zehn von der Wanduhr, und vom andern Ende des Hauses hörte er die Tür des Wohnzimmers gehen. Das war Anna; schon hörte er ihre Schritte auf dem Hausflur. Er blieb stehen und blickte um sich her: die Lampe brannte hell und warf ihren Schein in alle Winkel; es war alles ganz gewöhnlich.
Als Anna dann gleich darauf ins Zimmer trat, saß er wieder an seinem Schreibtische.
»Bist du bald fertig?« frug sie, die Hand auf seine Schulter legend; »ich weiß nicht, aber die Augen sind mir heut so schwer.«
Er sah nicht auf. »Ich denke; vielleicht ein halbes Stündchen noch.«
Und wie in den vorigen Nächten setzte sie sich still mit ihrer Arbeit neben ihn. Aber immer langsamer regten sich die schlanken Finger, und die halbe Stunde war noch nicht verflossen, da rückte sie ihren Stuhl dicht an den seinen, und von Müdigkeit überwältigt, sank ihr Haupt auf seine Schulter.
Behutsam, damit sie sicher ruhen könne, legte er den Arm um sie; und als die halbgeöffneten Lippen des jungen Weibes sich bald in gleichmäßigen leisen Atemzügen ihm entgegenhoben, da neigte er sich unwillkürlich zu ihr, um sie zu küssen. Aber es kam nicht dazu; wie in plötzlicher Erstarrung richtete er sich auf und griff mit der freigebliebenen Hand nach der vorhin fortgelegten Feder. Nein, nein, das war vorüber; die Arbeit, die da vor ihm lag, die mußte noch zu Ende!
Er begann auch wirklich bald zu schreiben, und der fast leere Bogen füllte sich bis auf die Hälfte; dann aber, während er grübelnd darauf hinstarrte, verloren sich die Buchstaben in verworrenes Gekritzel. Allmählich jedoch schien wieder eine bestimmte Vorstellung Platz zu greifen. Der Umriß eines menschlichen Schädels trat deutlich genug hervor; aus einem Tintenklecks daneben wurde eine spinnenartige Ungestalt, die immer mehr und längere Arme nach dem Schädel streckte; nur statt des Spinnen war es ein Hundskopf, der sich wie gierig aus dem dicken Leib hervordrängte.
Aber mit wie großer Emsigkeit auch Rudolf diese seltsame Arbeit zu betreiben schien, sie war doch nur der Punkt, von welchem aus seine Gedanken sich ihre finstern Gänge wühlten. Er hatte eben die Feder fortgeworfen, als Anna nach einem tiefen Atemzuge die Augen aufschlug. »Du, Rudolf?« Und wie ein erstauntes Kind blickte sie um sich her. »Aber du arbeitest nicht mehr, weshalb sind wir nicht zu Bett gegangen?«
Seine überwachten Augen sahen sie an, als habe er keine Antwort auf diese einfache Frage.
»Du schliefst«, sagte er endlich, »ich mochte dich nicht wecken.«
Sie wollte sich aufrichten, als ihr Blick auf das Papier fiel, worauf er eben jene symbolische Zeichnung hingeschrieben hatte. »Was ist das?« rief sie. »Was hast du da gemacht? Ein Totenkopf!«
Seine Lippen zitterten, als ob sie mit noch ungesprochenen Worten kämpften. »Nein, nein«, sagte er; »das nicht, so war es nicht gemeint.«
Anna sah ihn ängstlich an: »Weshalb nimmst du deinen Arm fort, Rudolf? Du hältst mich jetzt so selten nur in deinem Arm!«
Er riß sie heftig an sich, und noch einmal sank ihr Kopf an seine Schulter; wie in Angst, als ob sie ihm entschwinden könnte, umschloß er sie mit beiden Armen. So saßen sie lange; nur die Atemzüge des einen waren dem andern hörbar. »Anna!« kam es zuerst dann über seine Lippen.
»Ja, Rudolf?«
»Was meinst du, Anna« – aber es war, als würde er nur mühsam seiner Worte Herr –, »ich dächte, wir könnten morgen wohl zu Bernhard fahren?«
»Zu Bernhard?« Sie hatte sich losgewunden, das Kartenhaus, das sie sich mit soviel Sorge aufgebaut hatte, drohte einzustürzen: Rudolf war nicht eifersüchtig! Oder – als ob sie alles um sich her vergesse, stand sie vor ihm – sollte es mit dieser Reise eine Liebesprobe gelten?
Wie auf sich selber scheltend, schüttelte sie zugleich das Haupt; aber sie mühte sich umsonst, ein andres zu ergrübeln; der Ton seiner Stimme war nicht gewesen, als ob er sie zu einer Lustreise hätte auffordern wollen.
Und jetzt hörte sie dieselbe Stimme wieder: »Du antwortest mir nicht, Anna!«
Sie warf sich vor ihm nieder: »Rudolf, geliebter Mann! Wann und wohin du willst!« Ein leuchtender Strom brach aus den blauen Augen, und die jungen Arme streckten sich ihm entgegen.
Aber nur eine kalte Hand legte sich auf ihr Haupt, das flehend zu ihm aufsah: »So laß uns versuchen, ob wir schlafen können.«
Am andern Morgen saß Rudolf schon wieder früh am Schreibtisch, seine Feder flog, die halbfertigen Arbeiten wurden rasch vollendet, ebenso rasch mußte der Schreiber sie kopieren. Inzwischen ordnete er selbst, was an Schriften und Karten sich auf Tisch und Stühlen in den letzten Tagen angehäuft hatte; oftmals warf er einen Blick auf die Wanduhr, um dann wieder in stummem düsterem Vorwärtsdrängen seine Arbeit fortzusetzen.
Als es acht geschlagen hatte, nahm er die von dem Schreiber fertiggestellten Schriften und machte sich auf den Weg zum Schlosse. Im Zimmer des Grafen, der in anderen Arbeiten saß, gab er auf die hastig hingeworfenen Fragen rasch und knappe Auskunft; es schien ihm wenig daran gelegen, ob seine Meinung Beifall finde.
Der Graf sah seinem Förster in das blasse Gesicht, und als dieser nach einem längeren geschäftlichen Gespräche fortgegangen war, blickte er noch eine Weile gegen die Tür, bevor er sich wieder zu der vorhin verlassenen Arbeit wandte.
– – Nachdem das junge Ehepaar zeitig sein Mittagsmahl eingenommen hatte, wurde der Einspänner aus dem Schuppen gezogen und der Rappe in die Deichsel gespannt. Wohl eine Stunde lang fuhren sie am Rande der gräflichen Waldungen; wieder, wie tags vorher, stand die goldene Septembersonne am Himmel, und der stärkende Duft des herbstlichen Blätterfalles erfüllte die Luft um sie her.
Nach einer weiteren Stunde sahen sie den Gutshof liegen; als sie in eine kurze Allee von Silberpappeln einbogen, lag am Ende derselben, durch einen sonnenhellen Raum davon getrennt, das Wohnhaus vor ihnen.
»Da ist schon Bernhard!« sagte Anna und wies auf eine kräftige Gestalt, welche neben der Haustür stand und, die Augen mit der Hand beschattend, dem ankommenden Gefährt entgegensah.
Rudolf nickte nur, und Anna sah es nicht, daß seine Hände sich wie in verbissenem Schmerz zusammenballten; nur das Pferd, das er am Zügel hielt, empfand es und bäumte sich in seiner Deichsel.
Als der Wagen vor dem Hause anfuhr, war das verschwunden. »Da sind wir endlich!« sagte er, Bernhard die Hand entgegenstreckend.
Bernhard sah ein wenig überrascht, fast verlegen aus; aber auch das verlor sich gleich. »Seid willkommen, du und Anna!« sagte er herzlich. »Ich erkannte euch erst, als ihr hier in den Sonnenschein hinausfuhrt.«
Nun kam auch Julie aus dem Hause, und die Begrüßung wurde lebhafter; und als man erst drinnen um den blinkenden Kaffeetisch der jungen Wirtin saß, geriet auch ohne die Männer sogleich die Unterhaltung, denn das Geschwisterpaar war kürzlich in Annas Elternhause auf Besuch gewesen, und diese hatte fast noch mehr zu fragen, als jene zu berichten. Nach beendetem Kaffee drang Rudolf auf einen Spaziergang durch die Gutsflur, die zwar seiner Frau, aber ihm noch nicht bekannt sei. Anna wollte eben ihren Arm in den der Freundin legen, als sie Rudolf sagen hörte: »Du, Bernhard, nimmst dich meiner Frau wohl an; Fräulein Julie wird mit mir sich plagen müssen; übrigens« – und er wandte sich zu dieser –, »ich verspreche, heute nicht zu zanken.«
»Sie haben auch heute keine Ursache mehr«, entgegnete Julie leise und warf, plötzlich ernst geworden, einen liebevollen Blick auf ihren Bruder.
Dem jungen Förster war weder dieser Blick noch dessen Bedeutung entgangen; aber er nickte düster vor sich hin, als sei ihm das so recht, dann folgte er mit Bernhards Schwester den Vorausgehenden. Nachdem Haus und Garten und pflichtgemäß dann auch noch Keller und Scheune besichtigt waren, ging man ins Freie, zunächst über abgeheimste Weizenfelder, wo nur noch Scharen von Sperlingen oder mitunter ein Häuflein barfüßiger Kinder ihre Nachlese hielten. Anna mit ihrem zum Zerspringen vollen Herzen rief eins der kleinen Mädchen zu sich, und als es, nach einem ermunternden Worte Bernhards, langsam herangekommen war, zog sie ein blaues Seidentüchlein aus ihrer Tasche und band es, auf den Boden hinkniend, ihm sorgsam um sein Hälschen. Sie küßte das Kind und drückte es heftig an sich.
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