Als er an den Garten des Pastorats gekommen war, sah er ein helles Kleid zwischen den Boskettpartien schimmern, von welchen ein Steig zu einem Pförtchen nach der Dorfstraße hinausführte. Anna pflegte sonst um diese Stunde sich drinnen mit den kleinen Geschwistern zu beschäftigen; aber als er in den Garten getreten und den Steig hinabgegangen war, kam sie bei einer Biegung desselben ihm entgegen. »Du, Rudolf?« rief sie. »Ich hatte dich nicht kommen hören.«

Es war nicht der sonst so frohe Klang in ihrer Stimme ; auch sah sie ihn nicht an, da sie jetzt ihre Hand wie leblos in die seine legte.

Rudolf stutzte; die halben Worte seiner Mutter standen plötzlich vor ihm. »Was ist dir, Anna?« sagte er. »War Bernhard hier? Ich sah ihn fortreiten; er muß doch eben erst gekommen sein!«

»Ja«, entgegnete sie, ohne aufzublicken; »Bernhard wollte nicht bleiben.«

»Aber du hast ja rote Augen, Anna!« Und ein kaum merkliches Zittern klang aus seiner Stimme.

»Ja, Rudolf«, sagte sie und sah ihm voll ins Antlitz; »Bernhard hat mit mir gesprochen.«

»War das so traurig, was er mit dir zu sprechen hatte?«

Sie nickte: »Er bat – er wollte bei den Eltern um mich werben; er wußte ja noch nichts von unserer Verlobung.«

Rudolf war blaß geworden. »Nun, Anna?« frug er stockend.

»Ja, was denn weiter, Rudolf? Das konnte ich doch nicht erlauben.«

»Und darum weintest du?«

Er hatte diese Worte so laut hervorgestoßen, daß das Mädchen erschrocken um sich blickte; dann sagte sie ruhig: »Ja, darum weinte ich ; begreifst du das nicht, Rudolf?«

Er sah sie mit weit offenen Augen an. »Und darum hasse ich ihn!« rief er in ausbrechender Heftigkeit; »und jeden, der seine Hand nach deiner auszustrecken wagt!«

Nur einen Augenblick stand sie betroffen; gleich darauf hatte sie ihr Schnupftuch hervorgezogen und wischte sich recht derb damit die Augen. »Schilt mich, Rudolf«, sagte sie treuherzig, und ihre ganze süße Stimme klang in diesen Worten; »aber glaub nur, ich bin das nicht gewohnt, es hat mich sonst noch niemand haben wollen; er hätte doch auch sehen müssen, daß ich dir gehöre!«

Da riß er sie ungestüm an seine Brust: »Verzeih mir, habe Geduld! Auch ich muß erst lernen, so übermenschlich reich zu sein!«

Sie neigte nur das Haupt und ließ sich still umfangen; dann gingen sie miteinander in das Haus und waren zwischen Eltern und Geschwistern, bis auch dieser letzte Tag verging.

Während des Winters, der nun angebrochen war, wurde im Pfarrhause von unermüdlichen Händen an der Aussteuer der jungen Frau Försterin gearbeitet; die Mutter hätte gern wenigstens eins der neuen Sommerkleider mit grünem Band besetzt; aber Anna protestierte lachend und heftete das Band um ihren Sommerhut. Bisweilen kam auch der Pfarrer mit seiner Pfeife aus der Studierstube herüber, stand und nickte lächelnd seiner Anna zu, welche selbst die Schwester Käthe in deren Freistunden bei dieser heiteren Arbeit anzustellen wußte.

Weihnachten brachte den Besuch des Bräutigams und große Störung dieses fleißigen Treibens. Dann, nach der neuen Trennung, wurden den Brautleuten die Tage immer länger, zumal als noch einmal die Welt in Schnee begraben wurde und Anna von ihrer Arbeit, wie Rudolf aus dem Fenster seiner entlegenen Försterei, vergebens nach dem Briefboten aussah.

Endlich, unter den ersten Sonnenstrahlen des Aprils, der diesmal seinem Namen als »Eröffner« Ehre machte, legte der väterliche Priester die Hände des jungen Paares ineinander. Auch Bernhard als ein zwar ernster, aber wohlmeinender Gast war dessen Zeuge; er hatte einer verlorenen Hoffnung wegen nicht auch die Menschen selbst verlieren wollen. Noch vor dem Abschied hatten auf seine Bitte beide es ihm zugesagt, im Verlauf des Sommers auf seinem auch von ihrem neuen Wohnort nicht gar fernen Hofe einzukehren.

Dann unter dem Dache des inzwischen sauber hergerichteten Forsthauses kam der Beginn des jungen Ehelebens. Zwar hatten beide ihre volle Arbeit: Anna zu allem anderen mit einem aufgeschossenen Dorfkinde, das sie zum regelrechten Mägdedienst erziehen mußte, Rudolf die immer wiederkehrende Vertretung des kränkelnden Oberförsters ; aber die Arbeit selbst war jetzt ein Miteinanderleben. Oft auch – denn die Kunst der Wirtschaft war ihr angeboren, so daß sie immer noch ein Maß von Zeit für ihren Liebsten übrig hatte – begleitete Anna diesen auf seinen Berufswegen durch den Wald, sei es zu den Föhren, wo an den mächtigen Stämmen jetzt die Axt erklang, oder in einen der Buchenschläge, wo die gefürchtete Nonnenraupe mit Verwüstung drohte.

Inmitten dieser herrschaftlichen Wälder, auf den alten Karten zu über vierzig Tonnen Landes angezeichnet, lag ein Bezirk, in dem die königlichsten aller Bäume stehen sollten; aber, man wußte nicht, ob aus Liebhaberei oder infolge nachlässiger Bewirtschaftung der Vorbesitzer, seit wohl hundert Jahren hatte ihn keine Axt berührt, ja, wie es hieß, kaum eines Menschen Fuß betreten.

Der Graf freilich, in Begleitung Rudolfs und eines begeisterten Landschaftsmalers, war einmal mit Messer und Säbel eine Strecke weit in seinen »Urwald« vorgedrungen, und ein paar der wildesten Partien, welche der Maler auf die Leinwand gebracht hatte, zierten jetzt in der Residenz sein Arbeitszimmer.

Aber auch Anna, als Rudolf ihr davon erzählte, war im Übermut des Glückes und der Jugend ein Gelüsten nach dem Abenteuer angekommen: zwar hatte jener anfänglich neckend abgewehrt, dann aber eines Sonntagmorgens, in Freuden über sein schönes reisiges Weib, ihr selber kunstgerecht das Kleid gegürtet; und so waren sie, auch im übrigen wohlgerüstet, zum Besuch des Urwaldes ausgezogen. Manchmal im wildesten Gestrüppe hatte sie atmend an seiner Brust geruht, aber auf seine Frage, ob es denn nun genug sei, immer lächelnd noch den Kopf geschüttelt, bis er dann aufs neue vor und über ihr das Zweiggewirr durchbrochen und sie sich endlich zu einer Lichtung durchgekämpft hatten, wo ein bemooster Granitblock zum Ruhen einzuladen schien. Gegenüber, hinter einem schmalen Sumpfe, der vom Röhricht ganz durchwachsen war, stieg wiederum, anscheinend undurchdringlich, das Gewirr des Waldes auf.

Aber nur Rudolf hatte sich gesetzt; Anna kniete zwischen einem Flor von Maililien, welche einen Teil der Lichtung überdeckten, und pflückte eifrig einen Strauß zusammen. Als sich ihre Hand allmählich füllte, wandte sie den Kopf: »So hilf doch, Rudolf! Ich für deine, du für meine Stube!«

Er schien es nicht zu hören. »Sieh nur«, sagte er, indem er mit ausgestrecktem Finger gegenüber nach dem Dickicht zeigte; »wer sich nicht wollte finden lassen, müßte dort schwer zu suchen sein!«

Anna war aufgesprungen und sah ihn fast erschrocken an; aber schon hatte sie die Blumen fortgeworfen, und in Übermütiger Zärtlichkeit mit beiden Händen ihn umhalsend, rief sie heiter: »Versuch es nur, ich will dich dennoch finden!«

Ohne Blumen, in der Fülle ihres Glückes, waren sie dann heimgegangen.

– – Bald danach war Annas Vater im Forsthause eingekehrt und mit Jubel von dem jungen Paar empfangen worden. Nur auf wenige Tage hatte sein Amt ihn freigelassen, aber er verstand es, die Stunden auszunutzen. Auch im Schlosse war man zum Abendtee gewesen; der Graf und der Pfarrer schienen sich gegenseitig zu gefallen. Während Rudolf die Frauen am Klavier um sich versammelte, standen jene im Gespräch in einer Fensternische. »Ohne Zweifel«, sagte der Graf, »ich halte ihn für recht befähigt, nur etwas zaghaft noch; aber man muß der Jugend etwas zutrauen, und so hab ich's denn auch mit ihm im Sinne.« Der Pastor nickte: »Exzellenz wollen nachträglich die Männererziehung noch dazutun!« – »Ich denke, wir verstehen uns, Herr Pastor!« Und sie lauschten nun auch dem meisterhaften Spiel des jungen Försters.

Am andern Abend saß der Pastor wieder im Familienzimmer seines Pfarrhauses, und wenn die gute Frau Pastorin in seiner Erzählung auch vergebens auf den romantischen Zauber des Jägerlebens wartete, so ließ er selber sich doch behaglich von der jetzt Ältesten, seiner Käthe, den brennenden Fidibus für seine Pfeife bringen.

– – Es war im Juli an einem Sonntagnachmittage, als die jungen Eheleute in der warmen Sommerluft vor ihrem Hause saßen, wohlgeborgen unter der alten, weithin schattenden Eiche, deren Laub jetzt im sattesten Grün erglänzte. Die Kaffeestunde ging zu Ende, und Anna erhob sich und nahm das Geschirr von dem selbstgezimmerten Säulentische, um es ins Haus zurückzutragen. Nur sollte ihr das nicht ohne Hindernis gelingen; als sie an Rudolfs Sitz vorbei wollte, umschloß er sie mit beiden Armen, und so stand sie gefangen und wagte mit ihrer zerbrechlichen Bürde sich nicht zu rühren. Lächelnd blickte sie zu ihm nieder; das Schweigen des Glückes lag auf beider Antlitz.

Über der Haustür auf dem alten Geweih des Sechzehnenders, das sich bis in die grünen Zweige hinaufstreckte, zwitscherte eine Schwalbe und flog dann über ihren Köpfen wieder in den Sonnenschein hinaus; nur von der seitwärts am Waldesrande sich entlangziehenden Wiese tönte nach wie vor das Summen der Millionen schwebenden Geziefers; mitunter erhob es sich wie übermütig, als wollten sie den Menschen ihre kurze Sommerherrschaft fühlen lassen; dann sank es wieder wie zu leisem Harfenton.

Unwillkürlich hatten beide hingehorcht. »So hör ich's gern«, sagte Anna; »nur sollen sie mir nicht ins Zimmer kommen.«

Rudolf bejahte nachdenklich: »Aber sie kommen ungefragt; horch nur, es klingt ganz zornig, und sie dürsten auch nach unsrem Blute.«

»Laß sie«, versetzte heiter die junge Frau; »das Tröpfchen wollen wir ihnen gönnen.«

Über Rudolfs Augen flog es wie ein Schatten, und er schloß die Arme fester um die schlanken Hüften seiner Frau. »Meinst du?« sagte er gedehnt. »Es gibt eine schwarze Fliege, diese Sommerglut brütet sie aus, und sie kommt mit all den andern zu uns, in dein Haus, in deine Kammer, unhörbar ist sie da, du fühlst es nicht, wenn schon der häßliche Rüssel sich an deine Schläfe setzt. Schon mancher hat sie um sich gaukeln sehen und ihrer nicht geachtet, denn die wenigsten erkennen sie; aber wenn er von einem jähen Stiche auffuhr und sich, mehr lachend noch als unwillig, ein Tröpflein Blutes von der Stirn wischte, dann war er bereits ein dem Tod verfallener Mann.«

Anna hatte mit verhaltenem Atem zugehört; nun fuhr sie mit der freien Hand ihm über Stirn und Haare: »Du könntest einem bange machen, Rudolf; aber ich will diese schwarze Fliege fortjagen, denn sie kommt aus deinem Hirn und soll mir nicht dahin zurück; ich habe nie von diesem Spuk gehört.«

Er ließ sie gewähren; nur seine Augen suchten in zärtlicher Angst die ihren festzuhalten.