»Aller Spuk ist selten«, sagte er leise; »aber die schwarzen Fliegen sind doch wirklich da!«

»Nein!« rief sie, indem sie sich zu ihm neigte und, das Brett mit Kannen und Tassen emporhebend, es anmutig fertigbrachte, ihm den Mund zum Kuß zu reichen; »nein, Rudolf, nun sind sie alle fort! – Und nun laß mich!« setzte sie hinzu, da eben die Magd die neueste Zeitung auf den Tisch legte, welche, wie gewöhnlich um diese Zeit, des Oberförsters Knecht ihr ins Küchenfenster hineingereicht hatte. »Nun studier deine Zeitung und sieh zu, ob auch etwas für deine Frau darin ist!«

Er hatte sie freigelassen und sah ihr nach, da sie in das Haus ging; dann nahm er die Zeitung und begann zu lesen. Aber er las nur obenhin und ließ oft die Hand, welche das Blatt hielt, sinken; erst als er auch die letzten Spalten überflog, wurde seine Aufmerksamkeit gefesselt, jedenfalls schienen seine Augen über eine Notiz von wenig Zeilen nicht hinauszukommen. Es mochte nichts Heiteres sein, denn schwere Stirnfalten drückten seine Augenlider, während er noch immer darauf hinstarrte; oder hatte Frau Anna doch die schwarzen Fliegen nicht verjagen können? Plötzlich erhob er sich und legte die Zeitung auf den Tisch, indem er zugleich nach seinem Hute langte, den er über sich an einem Zweige aufgehangen hatte.

Aus dem offenen Hausflur rief die Stimme seiner Frau: »Was willst du, Rudolf? Gehst du fort?«

»Nur zum Andrees!« rief er zurück; »er soll den Köder in den Fuchseisen noch erneuern!«

»So wart doch wenigstens, bis die ärgste Glut vorüber ist!«

Aber er winkte nur noch mit der Hand und war bald auf dem Wege, der an des Forstwärters Haus vorbei zum Walde führte, hinter dem Gebüsch verschwunden.

Was Rudolf in der Zeitung gelesen hatte, lautete wörtlich wie folgt:

»Am letzten Dienstage, so wird von glaubhafter Seite uns berichtet, saß der erst kürzlich verheiratete Hufschmied Br... zu Wallendorf nach Feierabend mit seiner Frau im Wohnzimmer. Das Gespräch zwischen den Eheleuten war eine Weile stumm gewesen, als der Mann wieder anhub: ›Heute sind es gerade dreizehn Jahre, daß ich von einem tollen Hund gebissen wurde! Man sagte mir damals, ich solle mich nicht verheiraten; aber es hat mir bis jetzt doch nichts darum geschadet.‹ Die Frau, welche erst in diesem Augenblick von jenem Vorgang hörte, erschrak heftig; noch mehr aber, als sie jetzt in das plötzlich verzerrte Antlitz ihres Mannes blickte. Und kaum waren einige Minuten verflossen, als die Nachbaren auf ihr Geschrei herbeieilten und den Unglücklichen, bei dem schon alle Zeichen von Tollwut ausgebrochen waren, an Händen und Füßen fesseln mußten.«

Das war es, was Rudolf gelesen und was so ganz von ihm Besitz genommen hatte, daß es allem übrigen sein Ohr verschloß. Und jetzt auf dem einsamen Wege kamen ihm die Worte, die einzelnen Sätze in ihrer Reihenfolge immer wieder; er suchte anderes zu denken: an seine Mutter, an Anna, sogar an des Herrn Grafen Exzellenz; aber es half nichts, es waren immer nur die schwarzen Buchstaben in ihrem kleinen Zeitungsdruck, die unabweisbar an ihm vorüberzogen.

In der Hütte des Waldwärters traf er diesen nicht daheim; er ging wieder hinaus, ohne auch nur der anwesenden Frau den einfachen Auftrag mitzuteilen. Erst nach einer Weile bemerkte er, daß er nicht den Rückweg nach seinem Hause eingeschlagen hatte, sondern mitten im Walde auf einem Wege schritt, der zwischen hohen finsteren Tannen ausgehauen war. Endlich begann er seiner Gedanken Herr zu werden: was wollte jene furchtbare Geschichte denn von ihm? Ihn hatte niemals weder ein toller noch ein anderer Hund gebissen, und im übrigen – wer konnte aller Menschen Leid mitfühlen wollen? Wog es nicht vielleicht noch schwerer als der Menschheit Sünden, die doch nur Gottes Sohn auf sich genommen hatte?

Grübelnd blieb er stehen; aber es war ja auch kein Mitleid, das er fühlte, er hatte sich ja selber nur belügen wollen! Nein, nein, kein toller Hund; aber – jenes andere, was er nicht zu denken wagte, was er hinter sich in Nacht begraben wähnte! Wenn es wiederkäme – nach zehn, nach zwanzig Jahren? Oder – wer könnte wissen – vielleicht schon jetzt, noch eh der Herbst die Blätter von den Wäldern fegte!

Er fuhr mit beiden Händen vor sich hin, als wolle er ein Schreckbild von sich stoßen; aber er sah es doch, er hörte den Schrei seines Weibes, er sah die Nachbaren – – nein, sie hatten ja keine Nachbaren! Niemand konnte kommen! Plötzlich, als müsse er nun selber ihr zu Hülfe eilen, wandte er sich zur Heimkehr ; rasch und rascher, daß es bald einem Laufen gleich war, eilte er zurück. Aber die Gedanken liefen immer mit: jener Hufschmied, war er auch so feig gewesen? Hatte auch er von selbstsüchtiger Mutterliebe sich den Mund verschließen lassen, eh er das junge Weib in seine Kammer brachte?

Ein Donner rollte über den Wald hin und verhallte dröhnend. Die Glut des Tages hatte sich gelöst: zu beiden Seiten rauschte es durch die Tannen, und kühlend fielen die ersten großen Tropfen auf die heiße Erde. Auch Rudolf atmete auf in dem belebenden Dufte, der sich jetzt erhob, auch ihm floß es wie erquickliche Kühle durch die Adern: was war es denn gewesen, das ihn so erschreckt hatte? Hier ging er ja gesund und kräftig wie nur jemals! Und daheim? Verlockend, wie noch nie, stand seines Weibes schlanke jugendliche Gestalt vor seinen Sinnen. Immer rascher schritt er durch den gewaltig niederrauschenden Regen, bis er das Gebell seiner beiden braunen Hunde hörte, die mit ausgelassenen Sprüngen ihm entgegentobten, und bis er endlich dann mit leuchtendem Angesicht vor seinem blonden Weibe stand.

Freilich, von Kuß und Umarmung des triefenden Geliebten wollte sie für jetzt nichts wissen; lachend, mit vorgestreckten Händen, drängte sie ihn in die Kammer: »Hier, Rudolf, ist der Schlüssel zu deinem Kleiderschrank. Wenn du hübsch trocken bist, darfst du zu mir kommen und dir deine Schelte holen!«

Und ihre Augen lachten wie die lieblichste Verheißung.

Aber der glückliche Schluß dieses Tages hatte seinen übrigen Inhalt nicht beseitigen können. Es war in Rudolf etwas wachgerufen, das während seiner kurzen Ehezeit bisher geschlafen hatte; ein Zufall hatte die Decke jetzt gelüpft, und er sah es in der Tiefe liegen und allmählich höher steigen, bis es endlich unverrückt mit den feindlichen Augen zu ihm emporstarrte. Immer öfter zog es seinen Blick dahin, so daß er dauernd auf nichts anderes mehr sehen konnte und zu Arbeiten, die er vormals bequem bewältigt hatte, nicht selten die Nacht zu Hülfe nehmen mußte.

Eine Geschäftsreise nach der Residenz im Auftrage des Grafen brachte Abwechselung und eine Einkehr bei der Mutter. Sie hatte bei seinem Empfange ihn lange stumm betrachtet und ihn dann in das zweite Zimmer geführt, das Rudolf früher wohl scherzend ihren Ahnensaal zu nennen pflegte. »Du siehst übel aus, mein Sohn!« war das erste Wort, das sie ihm sagte, als sie sich gegenübersaßen.

Er suchte ihr das auszureden und wollte es auf die Nachtfahrt schieben, aber sie unterbrach ihn: »Seit deines Vaters Augen so früh sich geschlossen, waren die meinen nur auf dich gerichtet; du vermagst mich nicht zu täuschen.« Und als er schwieg, ergriff sie seine beiden Hände: »Du bist unglücklich, mein Sohn; nur deiner Mutter kannst du das nicht verbergen!«

Er sah wie gedankenlos eine Weile zu ihr hinüber. »Ja, Mutter«, sagte er dann ; »ich glaube fast, daß ich es bin.«

»Weshalb, Rudolf, weshalb bist du es?«

Auf dem Tische lag eine Zeitung; Rudolf hob sie auf, es war dieselbe, die der Oberförster und er zusammen hielten. »Hast du das gelesen neulich?« sagte er zögernd; »das – mit dem Hufschmied?«

»Ja, Rudolf, ich hab es gelesen. Was soll das? Der Unglückliche!«

»Die Unglückliche!« erwiderte er, stark das erste Wort betonend. »Und hast du auch gelesen, nach dreizehn Jahren ist es ausgebrochen?«

»Was soll das? Was willst du, Rudolf?« frug sie wieder.

Er war aufgestanden. »Mutter«, sagte er leise; »bin ich nicht auch von einem solchen Hund gebissen worden? Und sie, die Unglückliche, ist ewig, was wir hier ewig nennen, an mir festgeschmiedet! Wir waren übel beraten, Mutter, als wir die schöne Unschuld für meinen Dienst betrogen.«

Sie blickte ihn fast zornig an: »Das ist es, Rudolf? Ich verstand dich nicht.«

»Ja, Mutter; was konnte es anders sein?«

Ein schmerzliches Aufleuchten ging durch die dunkeln Augen der Frau, und einige Sekunden lang bedeckte sie sie mit ihrer weißen Hand. »Wenn ich für dich gesündigt habe«, sagte sie bitter, »so habe ich mit Recht den Dank dafür verloren; laß mich's denn auch allein verantworten!«

Er nahm ihre nur schwach widerstrebende Hand und küßte sie: »Ich bin nicht undankbar, Mutter; aber ich weiß auch, daß ich meine Schuld allein zu tragen habe.«

Frau von Schlitz antwortete nicht sogleich ; hinter ihrer breiten Stirn, die unter einer schwarzen Florhaube noch blasser als das Antlitz ihres Sohnes schien, hielten die Gedanken raschen Überschlag. »Besinne dich«, begann sie dann anscheinend ruhig; »du hast den Brief deines derzeitigen Arztes selbst gelesen, er enthielt nichts, was zu verbergen war; von jener Seite droht deinem oder, wie ich jetzt ja sagen muß, euerem Leben nicht Gefahr. Dich drückt nur das Geheimnis, das Versprechen, das du mir gegeben hast; ich gebe es dir zurück, es war unnötige, übertriebene Sorge, da ich es von dir verlangte.«

Aber Rudolf blickte wie erstaunt auf sie herab. »Reden? Jetzt noch reden, Mutter? Und das rätst du mir? Und Anna? Anna? Dreizehn Jahre lang, und immer die armen Augen nach dem Schreckgespenst? – – Nein, nein!« rief er heftig, »jetzt muß ich mit mir selber fertig werden!«

»Und wenn du es nicht wirst, Rudolf?« Wie von Angst gepreßt wurden diese Worte ausgestoßen.

»Dann«, sagte er langsam, »wird sie frei von mir; es gibt nur einen Weg, den ich ohne sie noch gehen kann. O Mutter, hat denn mein Vater dich nicht auch geliebt?«

Sie hatte sich aufgerichtet, eine Frau von nicht mehr jugendlicher, aber noch immer ernster Schönheit. »Ja, mein Sohn«, rief sie und schlang leidenschaftlich beide Arme um seinen Nacken, »wohl haben wir uns geliebt, ich und dein Vater; aber dich lieb ich mehr, als Mann und Weib sich lieben können; was kümmern mich alle andern Menschen außer dir!«

Stumm, erschüttert hielt der Sohn die Mutter an seiner Brust; an dem Zucken ihres Leibes fühlte er, wie die starke Frau sich selbst zur Ruhe kämpfte.