Wenn du hübsch trocken bist, darfst du zu mir kommen und dir deine Schelte holen!«
Und ihre Augen lachten wie die lieblichste Verheißung.
Aber der glückliche Schluß dieses Tages hatte seinen übrigen Inhalt nicht beseitigen können. Es war in Rudolf etwas wachgerufen, das während seiner kurzen Ehezeit bisher geschlafen hatte; ein Zufall hatte die Decke jetzt gelüpft, und er sah es in der Tiefe liegen und allmählich höher steigen, bis es endlich unverrückt mit den feindlichen Augen zu ihm emporstarrte. Immer öfter zog es seinen Blick dahin, so daß er dauernd auf nichts anderes mehr sehen konnte und zu Arbeiten, die er vormals bequem bewältigt hatte, nicht selten die Nacht zu Hülfe nehmen mußte.
Eine Geschäftsreise nach der Residenz im Auftrage des Grafen brachte Abwechselung und eine Einkehr bei der Mutter. Sie hatte bei seinem Empfange ihn lange stumm betrachtet und ihn dann in das zweite Zimmer geführt, das Rudolf früher wohl scherzend ihren Ahnensaal zu nennen pflegte. »Du siehst übel aus, mein Sohn!« war das erste Wort, das sie ihm sagte, als sie sich gegenübersaßen.
Er suchte ihr das auszureden und wollte es auf die Nachtfahrt schieben, aber sie unterbrach ihn: »Seit deines Vaters Augen so früh sich geschlossen, waren die meinen nur auf dich gerichtet; du vermagst mich nicht zu täuschen.« Und als er schwieg, ergriff sie seine beiden Hände: »Du bist unglücklich, mein Sohn; nur deiner Mutter kannst du das nicht verbergen!«
Er sah wie gedankenlos eine Weile zu ihr hinüber. »Ja, Mutter«, sagte er dann ; »ich glaube fast, daß ich es bin.«
»Weshalb, Rudolf, weshalb bist du es?«
Auf dem Tische lag eine Zeitung; Rudolf hob sie auf, es war dieselbe, die der Oberförster und er zusammen hielten. »Hast du das gelesen neulich?« sagte er zögernd; »das – mit dem Hufschmied?«
»Ja, Rudolf, ich hab es gelesen. Was soll das? Der Unglückliche!«
»Die Unglückliche!« erwiderte er, stark das erste Wort betonend. »Und hast du auch gelesen, nach dreizehn Jahren ist es ausgebrochen?«
»Was soll das? Was willst du, Rudolf?« frug sie wieder.
Er war aufgestanden. »Mutter«, sagte er leise; »bin ich nicht auch von einem solchen Hund gebissen worden? Und sie, die Unglückliche, ist ewig, was wir hier ewig nennen, an mir festgeschmiedet! Wir waren übel beraten, Mutter, als wir die schöne Unschuld für meinen Dienst betrogen.«
Sie blickte ihn fast zornig an: »Das ist es, Rudolf? Ich verstand dich nicht.«
»Ja, Mutter; was konnte es anders sein?«
Ein schmerzliches Aufleuchten ging durch die dunkeln Augen der Frau, und einige Sekunden lang bedeckte sie sie mit ihrer weißen Hand. »Wenn ich für dich gesündigt habe«, sagte sie bitter, »so habe ich mit Recht den Dank dafür verloren; laß mich's denn auch allein verantworten!«
Er nahm ihre nur schwach widerstrebende Hand und küßte sie: »Ich bin nicht undankbar, Mutter; aber ich weiß auch, daß ich meine Schuld allein zu tragen habe.«
Frau von Schlitz antwortete nicht sogleich ; hinter ihrer breiten Stirn, die unter einer schwarzen Florhaube noch blasser als das Antlitz ihres Sohnes schien, hielten die Gedanken raschen Überschlag. »Besinne dich«, begann sie dann anscheinend ruhig; »du hast den Brief deines derzeitigen Arztes selbst gelesen, er enthielt nichts, was zu verbergen war; von jener Seite droht deinem oder, wie ich jetzt ja sagen muß, euerem Leben nicht Gefahr. Dich drückt nur das Geheimnis, das Versprechen, das du mir gegeben hast; ich gebe es dir zurück, es war unnötige, übertriebene Sorge, da ich es von dir verlangte.«
Aber Rudolf blickte wie erstaunt auf sie herab. »Reden? Jetzt noch reden, Mutter? Und das rätst du mir? Und Anna? Anna? Dreizehn Jahre lang, und immer die armen Augen nach dem Schreckgespenst? – – Nein, nein!« rief er heftig, »jetzt muß ich mit mir selber fertig werden!«
»Und wenn du es nicht wirst, Rudolf?« Wie von Angst gepreßt wurden diese Worte ausgestoßen.
»Dann«, sagte er langsam, »wird sie frei von mir; es gibt nur einen Weg, den ich ohne sie noch gehen kann. O Mutter, hat denn mein Vater dich nicht auch geliebt?«
Sie hatte sich aufgerichtet, eine Frau von nicht mehr jugendlicher, aber noch immer ernster Schönheit. »Ja, mein Sohn«, rief sie und schlang leidenschaftlich beide Arme um seinen Nacken, »wohl haben wir uns geliebt, ich und dein Vater; aber dich lieb ich mehr, als Mann und Weib sich lieben können; was kümmern mich alle andern Menschen außer dir!«
Stumm, erschüttert hielt der Sohn die Mutter an seiner Brust; an dem Zucken ihres Leibes fühlte er, wie die starke Frau sich selbst zur Ruhe kämpfte. Aber unter den zärtlichen Worten, die sein Herz ihn sprechen ließ, verkannte er gleichwohl nicht, daß diese Leidenschaft, wo sie ihn bedroht wähne, in jedem Augenblick bereit sei, sich feindselig gegen alle Welt, ja gegen des eignen Sohnes Weib zu kehren. Mit dem Scharfsinn seiner jugendlichen Liebe las er in der Seele der erregten Frau; und ehe beide voneinander schieden, hatte die Mutter, wenn auch widerstrebend, ihm nun ihrerseits geloben müssen, an der Vergangenheit ohne sein Zutun nicht zu rühren.
Nur darin traf ihr Wunsch mit einem bereits von ihm gefaßten Entschluß überein: er wollte sich Beruhigung oder wie er still bei sich hinzufügte – doch Entscheidung über seinen Zustand bei dem Arzte holen, unter dessen Fürsorge er jene Monate des vergangenen Jahres zugebracht hatte; wenn er noch einmal eine Nachtfahrt daransetzte, so wer ihm, bei der unerwartet raschen Erledigung des Geschäftes, die Zeit noch zur Verfügung.
– – Und etwa zehn Stunden später saß er dem Genannten, einem kräftigen Manne in mittleren Jahren, gegenüber; die heiteren, etwas schelmischen Augen des Arztes ruhten auf dem Antlitz seines früheren Patienten, während dieser, der dem vertrauengebenden Wesen desselben seine damalige rasche Genesung zu verdanken glaubte, ihm dies in warmen Worten aussprach.
»Aber was treiben Sie denn, Herr von Schlitz«, unterbrach ihn jener, »Sie sollten wohler aussehen! Sie sind von uns als völlig – wohlverstanden, als völlig geheilt entlassen worden.« Die Frage, um deren willen Rudolf seine Reise hieher verlängert hatte, war somit schon zum größten Teil und auf das unverfänglichste beantwortet; nun galt es nur noch seinerseits eine unverhaltene Auskunft über späteres Erlebnis; und nach kurzem Widerstreben überwand er sich: sein Geheimnis war hier keines, nun bekannte er auch seine Schuld. Ein leichtes Stirnrunzeln überflog das Angesicht des älteren Mannes. »Nein, nein«, sagte er gleich darauf, da Rudolf stockte, »sprechen Sie nur; ich klage Sie nicht an!«
Und der Jüngere fuhr fort und verschwieg ihm nichts. »Mitunter« – so schloß er seine Beichte –, »aber nur in kurzen Augenblicken, ist es mir, als ob der dunkle Vorhang aufweht, und dahinter, wie zu meinen Füßen, sehe ich dann das Leben gleich einer heiteren Landschaft ausgebreitet; aber ich weiß doch, daß ich nicht hinunter kann.«
Wieder ruhte der sinnende Blick des Arztes auf des jungen Mannes Antlitz. »Nicht wahr«, sagte er dann, »aber es ist mehr der anteilnehmende erfahrene Mann als der Arzt, der diese Frage an Sie tut – Sie haben eine gesunde und eine Frau von heiterem Gemüte?«
Rudolfs Augen leuchteten, und in seinen Armen zuckte es, als müsse er sich zwingen, sie nicht nach seinem fernen Weibe auszustrecken. »Sie sollten sie nur sehen!« rief er. »Nein, nur ihre Stimme brauchten Sie zu hören!«
Der Arzt lächelte. »Dann«, sagte er, »wenn dem so ist«, und er betonte jedes Wort, als ob er auf schwerwiegende Gründe eine Entscheidung baue, »dann – reden Sie; und Sie werden nicht allein in jenes heitere Land hinunterschreiten!«
Rudolf war fast erschrocken, als dieselbe Forderung, die er noch kurz zuvor der Mutter gegenüber so schroff zurückgewiesen hatte, ihm nun auch hier entgegenkam. Aber sie reizte ihn hier nicht zum Widerspruche; die ruhigen Worte, in denen jetzt der teilnehmende Mann ihm zusprach, mochten kaum anderes enthalten, als was er von seiner Mutter auch schon wiederholt gehört hatte; dennoch war ihm, als ob seine Gedanken sich allmählich von einem Banne lösten, der sie stets um einen Punkt getrieben hatte. Allein hatte er seinen Weg in Nacht und Schrecken wandern wollen! Aber – und seine Brust hob sich in einem starken Atemzuge – es gab ja kein »Allein« für ihn, er selber hatte ja gesagt, sie seien aneinander festgeschmiedet, er konnte nicht in der Finsternis und sie im Lichte gehen; er begriff nicht, daß er das nicht längst begriffen hatte.
Entschlossen reichte er dem Arzt die Hand hinüber. »Ich danke Ihnen«, sagte er, »ich werde reden.«
»Und Sie werden recht tun.« – Dann schieden sie.
Heiter, voll froher Zukunftsbilder, fuhr Rudolf seiner Heimat zu; bei hellem Mittag, in einer unablässig schwatzenden Reisegesellschaft, erquickte ihn ein langer Schlaf; als er unweit seines Zieles dann erwachte, konnte er kaum erwarten, vor Anna hinzutreten und Schuld und Reue vor ihr auszuschütten; er sah schon, wie sie weinen, wie sie dann aus ihren Tränen sich erheben und, ihm mutig zulächelnd, ihre kleine feste Hand in die seine legen würde; ja, Anna, die Schöne, Gute, sie hatte ja auch ein festes Herz!
Er hatte nicht bedacht, daß er während seiner Ehe zum ersten Mal so lange fern gewesen war. Als er von der letzten Bahnstation den Richtweg durch den Wald dahinschritt, da klopfte sein Herz doch nur nach seinem Weibe; und als er, auf die Wiese hinaustretend, sie dann im Abendschatten auf der Schwelle seines Hauses stehen sah, sie selber leuchtend in Jugend und Liebe, die Arme ihm entgegenstreckend, aber doch wie festgebannt, als müsse sie hier ihr Glück empfangen, da stieg es nur wie ein Gebet aus seiner Brust, daß auch nicht eines Sandkorns Fall den Zauber dieser Stunde stören möge.
Morgen! Sie waren ja morgen auch beisammen.
Und es wurde morgen, und der helle Tag, der unerbittlich zu Pflicht und Arbeit fordert, schien in alle Fenster des Försterhauses. Rudolf hatte in seinem an der Rückseite belegenen Zimmer die in seiner Abwesenheit eingegangenen Geschäftssachen eingesehen und trat jetzt in die gemeinsame Wohnstube, wo Frau Anna den Morgenkaffee für ihn warm gehalten hatte.
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