Aber unter den zärtlichen Worten, die sein Herz ihn sprechen ließ, verkannte er gleichwohl nicht, daß diese Leidenschaft, wo sie ihn bedroht wähne, in jedem Augenblick bereit sei, sich feindselig gegen alle Welt, ja gegen des eignen Sohnes Weib zu kehren. Mit dem Scharfsinn seiner jugendlichen Liebe las er in der Seele der erregten Frau; und ehe beide voneinander schieden, hatte die Mutter, wenn auch widerstrebend, ihm nun ihrerseits geloben müssen, an der Vergangenheit ohne sein Zutun nicht zu rühren.
Nur darin traf ihr Wunsch mit einem bereits von ihm gefaßten Entschluß überein: er wollte sich Beruhigung oder wie er still bei sich hinzufügte – doch Entscheidung über seinen Zustand bei dem Arzte holen, unter dessen Fürsorge er jene Monate des vergangenen Jahres zugebracht hatte; wenn er noch einmal eine Nachtfahrt daransetzte, so wer ihm, bei der unerwartet raschen Erledigung des Geschäftes, die Zeit noch zur Verfügung.
– – Und etwa zehn Stunden später saß er dem Genannten, einem kräftigen Manne in mittleren Jahren, gegenüber; die heiteren, etwas schelmischen Augen des Arztes ruhten auf dem Antlitz seines früheren Patienten, während dieser, der dem vertrauengebenden Wesen desselben seine damalige rasche Genesung zu verdanken glaubte, ihm dies in warmen Worten aussprach.
»Aber was treiben Sie denn, Herr von Schlitz«, unterbrach ihn jener, »Sie sollten wohler aussehen! Sie sind von uns als völlig – wohlverstanden, als völlig geheilt entlassen worden.« Die Frage, um deren willen Rudolf seine Reise hieher verlängert hatte, war somit schon zum größten Teil und auf das unverfänglichste beantwortet; nun galt es nur noch seinerseits eine unverhaltene Auskunft über späteres Erlebnis; und nach kurzem Widerstreben überwand er sich: sein Geheimnis war hier keines, nun bekannte er auch seine Schuld. Ein leichtes Stirnrunzeln überflog das Angesicht des älteren Mannes. »Nein, nein«, sagte er gleich darauf, da Rudolf stockte, »sprechen Sie nur; ich klage Sie nicht an!«
Und der Jüngere fuhr fort und verschwieg ihm nichts. »Mitunter« – so schloß er seine Beichte –, »aber nur in kurzen Augenblicken, ist es mir, als ob der dunkle Vorhang aufweht, und dahinter, wie zu meinen Füßen, sehe ich dann das Leben gleich einer heiteren Landschaft ausgebreitet; aber ich weiß doch, daß ich nicht hinunter kann.«
Wieder ruhte der sinnende Blick des Arztes auf des jungen Mannes Antlitz. »Nicht wahr«, sagte er dann, »aber es ist mehr der anteilnehmende erfahrene Mann als der Arzt, der diese Frage an Sie tut – Sie haben eine gesunde und eine Frau von heiterem Gemüte?«
Rudolfs Augen leuchteten, und in seinen Armen zuckte es, als müsse er sich zwingen, sie nicht nach seinem fernen Weibe auszustrecken. »Sie sollten sie nur sehen!« rief er. »Nein, nur ihre Stimme brauchten Sie zu hören!«
Der Arzt lächelte. »Dann«, sagte er, »wenn dem so ist«, und er betonte jedes Wort, als ob er auf schwerwiegende Gründe eine Entscheidung baue, »dann – reden Sie; und Sie werden nicht allein in jenes heitere Land hinunterschreiten!«
Rudolf war fast erschrocken, als dieselbe Forderung, die er noch kurz zuvor der Mutter gegenüber so schroff zurückgewiesen hatte, ihm nun auch hier entgegenkam. Aber sie reizte ihn hier nicht zum Widerspruche; die ruhigen Worte, in denen jetzt der teilnehmende Mann ihm zusprach, mochten kaum anderes enthalten, als was er von seiner Mutter auch schon wiederholt gehört hatte; dennoch war ihm, als ob seine Gedanken sich allmählich von einem Banne lösten, der sie stets um einen Punkt getrieben hatte. Allein hatte er seinen Weg in Nacht und Schrecken wandern wollen! Aber – und seine Brust hob sich in einem starken Atemzuge – es gab ja kein »Allein« für ihn, er selber hatte ja gesagt, sie seien aneinander festgeschmiedet, er konnte nicht in der Finsternis und sie im Lichte gehen; er begriff nicht, daß er das nicht längst begriffen hatte.
Entschlossen reichte er dem Arzt die Hand hinüber. »Ich danke Ihnen«, sagte er, »ich werde reden.«
»Und Sie werden recht tun.« – Dann schieden sie.
Heiter, voll froher Zukunftsbilder, fuhr Rudolf seiner Heimat zu; bei hellem Mittag, in einer unablässig schwatzenden Reisegesellschaft, erquickte ihn ein langer Schlaf; als er unweit seines Zieles dann erwachte, konnte er kaum erwarten, vor Anna hinzutreten und Schuld und Reue vor ihr auszuschütten; er sah schon, wie sie weinen, wie sie dann aus ihren Tränen sich erheben und, ihm mutig zulächelnd, ihre kleine feste Hand in die seine legen würde; ja, Anna, die Schöne, Gute, sie hatte ja auch ein festes Herz!
Er hatte nicht bedacht, daß er während seiner Ehe zum ersten Mal so lange fern gewesen war. Als er von der letzten Bahnstation den Richtweg durch den Wald dahinschritt, da klopfte sein Herz doch nur nach seinem Weibe; und als er, auf die Wiese hinaustretend, sie dann im Abendschatten auf der Schwelle seines Hauses stehen sah, sie selber leuchtend in Jugend und Liebe, die Arme ihm entgegenstreckend, aber doch wie festgebannt, als müsse sie hier ihr Glück empfangen, da stieg es nur wie ein Gebet aus seiner Brust, daß auch nicht eines Sandkorns Fall den Zauber dieser Stunde stören möge.
Morgen! Sie waren ja morgen auch beisammen.
Und es wurde morgen, und der helle Tag, der unerbittlich zu Pflicht und Arbeit fordert, schien in alle Fenster des Försterhauses. Rudolf hatte in seinem an der Rückseite belegenen Zimmer die in seiner Abwesenheit eingegangenen Geschäftssachen eingesehen und trat jetzt in die gemeinsame Wohnstube, wo Frau Anna den Morgenkaffee für ihn warm gehalten hatte. Nur ein Händedruck wurde gewechselt; dann nahm er schweigend die Tasse, welche sie ihm reichte, und Anna, die ihr Frühmahl schon beendet hatte, zog ihren Stuhl zu ihm heran und strickte weiter an einem Unterjäckchen, das noch vor der rauhen Jahreszeit zu dem gebrechlichen Brüderlein ins elterliche Pfarrhaus wandern sollte. Ihrer Augen bedurfte diese Arbeit nicht; die ruhten auf ihres Mannes Antlitz: er sah viel besser aus, als da er fortgegangen war; auf seiner Stirn und über den Augenlidern, die sich mitunter hoben und dann sinnend wieder senkten, lag etwas wie eine frohe Zuversicht; gewiß, während er so schweigend neben ihr sein Mahl verzehrte, überdachte er die gute Botschaft, die er noch am selben Vormittag dem Grafen überbringen mußte.
Aber Frau Anna irrte; das Schweigen ihres Mannes galt ihr selber: es war das Bekenntnis seiner Schuld, wofür sein Herz die Worte suchte, und was von seiner Stirne leuchtete, das war der Abglanz jener wolkenlosen Landschaft, in die er heute noch mit ihr hinabzuschreiten dachte.
Da, bevor zwischen beiden noch ein Wort gesprochen worden, pochte es an die Stubentür, und Rudolf fuhr aus seinem Sinnen auf. Es war nur der alte Waldwärter Andrees, der ins Zimmer trat, um über dies und jenes zu berichten; aber mit ihm war etwas anderes unsichtbar hereingekommen, was wir Zufall zu nennen pflegen, was auf den Gassen der Wind vor unsere Füße oder durchs offene Fenster in das Innere unseres Hauses weht.
Rudolf hatte die verschiedenen kleinen Mitteilungen entgegengenommen und hie und da ein zustimmendes oder anweisendes Wort dazu gegeben. »Ist sonst noch etwas, Andrees?« frug er, als dieser mit seinem Bericht zu Ende schien.
– »Sonst nichts, Herr Förster; nur daß der Holzschläger Peters aus der Anstalt wieder da ist.«
»Woher? Welcher Peters?« frug Rudolf hastig.
»Es war vor des Herrn Försters Zeit«, erwiderte Andrees. »Er hatte sich eingebildet, als einziger Sohn von den Soldaten freizukommen und dann drunten mit des reichen Seebauern Tochter Hochzeit zu machen; als aber auf beidem eine Eule gesessen hatte, da wurde er wirrig und mußte in die Anstalt.«
Anna hatte zu stricken aufgehört; einen losen Sticken an die Lippen drückend, horchte sie aufmerksam dieser Erzählung. »Der arme Mensch«, sagte sie mitleidig »ist er denn jetzt wieder ganz gesund?«
»Muß doch wohl, Frau Förstern«, meinte Andrees »sogar 'ne Frau hat er sich mitgebracht; freilich, keine reiche: es ist eine Wärterin aus der Anstalt, die sich in den jungen Kerl verliebt hatte.«
Ein Ton wie ein Schreckenslaut entfuhr den Lippen der jungen Frau: »Mein Gott, welch ein Wagstück! Wenn es wiederkäme!«
»Soll wohl sein können«, erwiderte Andrees; »aber das Weibsbild hat sich dann doch selber nur betrogen; sie muß ja wissen, wen sie sich gekauft hat.«
Anna starrte schweigend vor sich hin, als ob ihre Phantasie die schreckensvolle Möglichkeit verfolge; sie achtete kaum darauf, als Rudolf, der während dieses Gespräches keinen Laut von sich gegeben hatte, jetzt mit abgewandtem Antlitz fast schwankend sich erhob und, das Beben seiner Stimme mühsam nur beherrschend, zu dem Waldwärter sagte: »Kommen Sie nach meinem Zimmer, Andrees; es sind noch Postsachen für Sie mitzunehmen.« Als sie aber dahin gekommen waren, meinte Rudolf, er müsse bis zum Abend warten, es komme doch noch einiges dazu.
Wer nach dem Fortgange des Waldwärters hier unbemerkt hätte hineinblicken können, der hätte den jungen Förster in der Mitte des Zimmers gleich einem düsteren Bilde stehen sehn; mit untergeschlagenen Armen, das auf die Brust gesunkene Haupt von den schweren Atemzügen kaum bewegt. Nur einzelne karge Worte: »Schweigen!« und wieder »Schweigen-um jeden Preis und bis ans Ende!« wurden dann und wann von seinen Lippen laut.
Endlich, als dann die Wanduhr über seinem Schreibtisch mit lautem Schlage aushob, fuhr durch diesen einzigen Gedanken ihm ein anderer: er schüttelte sich, und nachdem er mit schweren Schritten ein paarmal auf und ab gegangen war, nahm er einige Papiere aus einem Schubfach; es war hohe Zeit, er mußte ja zum Grafen und den glücklichen Bericht erstatten.
– – Es ging schon gegen Mittag, als die junge Frau aus dem Küchenfenster, hinter welchem sie beschäftigt war, ihren Mann auf dem hier vorüberführenden Wege heimkehren sah und bald danach ihn auf dem Hausflur und nach seinem Zimmer gehen hörte. Unwillkürlich ruhten ihre emsigen Hände: Rudolf pflegte sonst nach solchem Gange »zur Herzerfrischung«, wie er sagte, sie für eine Weile aufzusuchen, sich ein paar Worte oder auch nur einen Händedruck von ihr zu holen; und jetzt kam es ihr plötzlich, daß er auch vorhin so jäh und ohne beides von ihr fortgegangen sei. Noch einige Minuten stand sie horchend, ob nicht die eben geschlossene Tür sich wieder öffnen möge; dann legte sie die Geschirre, die sie in der Hand hielt, fort und ging nach Rudolfs Zimmer.
Es schien völlig still da drinnen; als sie die Tür öffnete, fand sie ihn mit aufgestütztem Kopf an seinem Schreibtisch sitzen. Sie setzte sich an seine Seite und nahm seine Hand, die er ihr schweigend überließ; erst als sie den Druck derselben in der ihren fühlte, sprach sie leise: »Was war's denn, Rudolf? Warum gingst du mir vorüber? Brauchst du heute keine Herzerfrischung, oder mißtrauest du schon meiner armen Allmacht?«
Dem Drängen dieser liebevollen Stimme widerstand er nicht; ihm war ja auch nichts Übles widerfahren; im Gegenteil, sein Bericht hatte den Grafen in die wohlwollendste Laune versetzt; er hatte von dem notwendigen Abgange des altersschwachen Oberförsters gesprochen: schon jetzt werde Rudolf die Geschäfte und, sobald die Pensionsverhältnisse des Abgehenden geordnet wären, auch dessen höhere Stelle endgültig übernehmen müssen.
Ein Laut freudiger Überraschung entfuhr bei dieser Mitteilung dem Munde der jungen Frau. »Wie schön!« rief sie, stolz zu ihrem Mann emporblickend; »und dies Vertrauen, das du dir so bald erworben hast!«
Rudolf drückte den blonden Kopf seines Weibes gegen seine Brust, nur damit die glücklichen Augen nicht in seinem Antlitz forschten ; denn – wie sollte er nun das Weitere sagen? Schon seine bisherigen Pflichten lagen seit dieser Morgenstunde wie eine Angst ihm auf dem Herzen; bei dem Vorschlage des Grafen hatte es wie ein unübersteiglicher Berg sich vor ihm aufgetürmt; und statt eines freudigen Dankes hatte er nur zu einem Versuch bescheidenen Abwehrens sich ermannen können. Aber dieser Versuch war vergeblich gewesen; der Graf hatte nur gelächelt: »Mein junger Freund, nicht nur l'appétit vient en mangeant; es geht auch in andern Dingen so; ich selber habe nicht gewußt, was ich zu leisten vermochte, bis ich gezwungen wurde, es zu wissen.« Auf seine verwirrte Erwiderung: »Exzellenz ehren mich zu sehr mit einem solchen Vergleiche«, war ihm dann nur geantwortet: »Nun, nun, Herr Förster, ein jeder in seinem Kreise! Ich werde Sie denn doch vor solche Probe stellen müssen.«
Während dieser Vorgang sich ihm peinlich in der Erinnerung wiederholte, hatte Anna sich aus seinen Armen losgewunden. »Du!« rief sie, »wie lange willst du mich gefangenhalten!« Dann stand sie aufgerichtet vor ihm: »Aber du bist nicht froh, Rudolf; noch immer nicht! Und ich dachte schon an einen Jubelbrief nach Hause.«
Eine demütigende Scham überkam ihn, aber zugleich ein Drang, vor diesen klaren Augen zu bestehen. »Schreibe nur deinen Brief«, sagte er aufstehend; »es wird zwar aller meiner Kraft bedürfen; aber – ja, Anna, Dank, daß du gekommen bist.«
Kurz darauf waren aus der Oberförsterei ein großer Aktenschrank und ganze Karren von Aktenbündeln angelangt und in Rudolfs Zimmer untergebracht; auch eine Kammer für einen Schreibgehülfen hatte Anna einrichten müssen. Rudolf selber saß jetzt meistens in die Nacht hinein bei seiner Arbeit; selbst am Sonntage, zum Kirchgang, riß er sich erst im letzten Augenblicke los; ja, wenn Anna während des Gottesdienstes zu ihm aufblickte, glaubte sie eher arbeitende Gedanken als Andacht auf seinem Gesicht zu lesen. Im Hause über Tag sah sie ihn fast nur bei den Mahlzeiten, die er möglichst rasch beendete, und sosehr er oftmals einer Herzerfrischung zu bedürfen schien, er kam immer seltener, sie bei ihr zu suchen.
So mußte sich die junge Frau denn wohl gestehen: was ihres Mannes Stirn umwölkte, war etwas andres, als was der wechselnde Tag zusammentreibt und wieder auseinanderweht.
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