Aber aus welchen ihr unbekannten Abgründen war das aufgestiegen? War es noch rückgebliebener Schatten jener Krankheit, die er bei dem Besuch im Elternhause kaum erst überstanden hatte, oder war dies sein eigenstes Wesen, das sich jetzt ihr offenbarte? Zwar, die Last der Arbeit dauerte fort; aber an der ausreichenden Kraft des geliebten Mannes auch nur entfernt zu zweifeln konnte ihr nicht einfallen; tat das doch auch der Graf, der scharfblickende Menschenkenner, nicht.
Sie konnte sich keine Antwort geben; Rudolf selbst aber, wenn sie offen ihn befragte, schob alles auf die überkommene doppelte, ja dreifache Arbeit und vertröstete sie auf die Zeit, wenn erst die von dem kranken Vorgänger angehäuften Reste abgearbeitet sein würden. Ließ sie ungläubig dennoch nicht mit Bitten nach, dann sah sie Qual und Zärtlichkeit so bitterlich auf seinem Antlitz kämpfen, daß sie jäh verstummen mußte. So schwieg sie denn auch ferner und suchte nur, wo sie es immer konnte, ihm zu bringen, was er nicht mehr von ihr zu holen kam. Das Nachtarbeiten war allmählich zur Regel geworden; aber Frau Anna ließ ihn nicht allein; auch für sie gab es ja, wenn sie wollte, Arbeit genug. »Bei unseren neuen Amtsgeschäften« – so hatte sie der Mutter nach Haus geschrieben – »haben wir hier einen langen Tag; schickt mir nur alle euere Winterwolle, denn alle kleinen Beine werde ich bestricken können.«
Immer mehr fühlte Rudolf sich in einem dunklen Kreis gefangen. Auf einem Reviergange ließ er sich von dem alten Andrees den als Ehemann aus der Anstalt zurückgekehrten jungen Holzschläger zeigen: es war ein gesund ausschauender robuster Bursche; nur in seinen Augen war noch etwas wie ein stumpfes Überhinsehen. Rudolf beobachtete ihn lange, wie er unter den andern die Axt mit seinen starken Armen schwang dann ging er fort, ohne ein Wort an ihn zu richten. Aber schon am folgenden Tage stand er, er wußte selbst nicht wie, an demselben Platze unter den Holzschlägern ; der Mensch hatte eine unheimliche Anziehungskraft für ihn gewonnen.
Plötzlich wandte er sich ab; es trieb ihn mit Gewalt nach Hause, er mußte und wenn auch nur einen Blick in die klaren Augen seines Weibes tun. Aber er brauchte nicht so weit zu gehen; als er in den Fahrweg einbog, der durch den Wald führte, kam sie ihm entgegen. »Anna!« rief er und schloß sie in seine Arme.
»Ja, da bin ich, Rudolf; so auf gut Glück bin ich dir nachgelaufen.« Und langsam erhob sie ihre Augen zu den seinen; es war, als ob sie recht tief in ihnen lesen wollte.
»Was hast du, Liebste?« frug er.
»Dich!« erwiderte sie zärtlich.
»Sonst nichts?«
»Doch; noch einen Einfall!« Und sie nickte lächelnd zu ihm auf.
»Laß hören!« sagte er zerstreut; er war in ihren liebevollen Augen ganz verloren.
»Ja, weißt du, Rudolf – aber du darfst mich nicht so ansehen, sonst hörst du doch nicht –, ich war im Schuppen, wo das Kabriolett steht; es ist ja morgen Sonntag; wollen wir nicht zu Bernhard fahren? Auf unserer Hochzeit haben wir es ihm so fest versprochen! Du mußt einmal hinaus, und auch ich möchte gern die kleine Julie wiedersehen; ich glaube«, fügte sie lächelnd bei, »sie hat dich damals mir wohl nur so kaum gegönnt.«
Rudolf blickte noch immer auf seine Frau, aber seine Augen schienen ohne Sehkraft. Zu Bernhard – jetzt zu Bernhard! Warum überfiel es ihn plötzlich, als habe er kein Recht auf dieses Weib, das doch sein eigen war, deren jugendlichen Leib er jetzt, in diesem Augenblick, in seinen Armen hielt? Die Worte seiner Mutter klangen ihm wieder vor den Ohren: wenn Bernhard auch nur um eine Stunde ihm zuvorgekommen wäre!
»Rudolf, lieber Mann«, sagte Anna leise. Aber er schloß nur seine Arme fester um sie; seine Gedanken ließen ihn nicht los. Was würde werden, wenn ihn ein Unfall, wenn der Tod ihn fortnähme? – Er richtete sich straff empor, als müsse er das Bild, das seine Augen sahen, überwachsen ; aber es wurde nicht anders, und er sagte es sich dennoch: über seinem Grabe würde jener um sie werben, und Anna – würde Anna widerstehen?
Eine nie empfundene Leidenschaft für sein schönes Weib ergriff ihn; es drängte ihn, sich vor sie hinzuwerfen, es ihr zu entreißen, daß seine Gedanken ein Frevel an ihrer Liebe seien, daß das niemals, nie geschehen könne. Aber es war etwas, das seinen Mund verschloß; etwas, das er verschuldet hatte, das nicht wiedergutzumachen war.
Demütig löste er die Arme von ihrem jungen Leibe; sie aber zog sein Haupt zu sich herab und küßte ihn. »Lassen wir es!« sagte sie freundlich, »es wird noch mehr der schönen Tage geben, eh der Winter kommt.«
Er ergriff eine ihrer Hände, drückte sie heftig und ließ sie wieder: »Ja, Anna; später – später einmal; ich habe morgen auch den ganzen Tag besetzt.«
Sie hing sich an seinen Arm, und während sie aus dem Walde und an dessen Rand entlang nach Hause gingen, suchte sie den beklommenen Atem ihrer Brust zu meistern und über die kleinen Dinge ihres Tagewerks mit ihm zu plaudern.
Das Jahr rückte weiter: der erste Blätterfall begann schon hie und da den Wald zu lichten ; Schwärme von Vögeln, deren Stimmen man nur im Herbst zu hören pflegt, zogen hoch unter den Wolken dahin oder fielen rauschend in die Büsche und flogen weiter, wenn sie an den roten oder schwarzen Beeren sich gesättigt hatten ; auch an der Eiche, die das Dach des Försterhauses beschattete, begannen sich die Blätter bunt zu färben.
Auf dem herrschaftlichen Schlosse hatte inzwischen der Graf noch eine neue Arbeit für seinen jungen Förster ausgesonnen: die große Wildnis sollte endlich wieder in ordnungsmäßige Kultur genommen, ein daranstoßender Sumpf trockengelegt und dann bepflanzt werden; oberflächliche Vermessungen, so gut es hier und bei der treibenden Eile des Grafen geschehen konnte, waren bereits vorgenommen worden; nun galt es, Karten zu entwerfen und Kosten- und wer weiß was sonst für Anschläge auszuarbeiten und in kürzester Frist dem stets ungeduldigen Gebieter vorzulegen. Aber Rudolf konnte seinen Gedanken nicht mehr wehren, immer ihren eigenen dunkeln Wegen zuzustreben, und so rückte trotz seines Fleißes alles doch nur mühsam weiter. Schon ein paarmal war es darüber zwischen ihm und dem Grafen zur Erörterung gekommen, und in seinem Hirn begann ein Brüten, wie er alledem entrinnen möge. Sein geliebtes Klavier stand trotz Annas Bitten seit Monden unberührt; die Kunst, welche auch in ihren düstersten Abgründen nach dem Lichte ringt, durfte nichts von dem erfahren, was in ihm wie unter schwerem Stein begraben lag.
– – An einem Fußsteig, welcher in der Richtung vom Schlosse her durch den Wald führte, lag oder stand vielmehr zwischen zwei Erdaufwürfen eingeklemmt ein roher, aber mächtiger Granitblock; wie angenommen wurde, ein Grenzstein aus einem nicht allzu fernen Jahrhundert; denn nach der Seite des Steiges hin waren auf der bemoosten Oberfläche einige von den kürzeren Runenzeilen sichtbar, welche in heutiger Sprache heißen sollten : »Bis hieher ; niemals weiter.«
An diesem Orte, gegen die Rückseite des Steines gelehnt, saß eines Vormittags der junge Förster. Er hatte die von Anna ihm mitgegebenen Brotschnitte aus seiner Jagdtasche genommen; aber er aß nur einen kleinen Teil davon, das übrige brach er in kleine Brocken und streute es um sich her; die Vögel würden es schon finden.
Vor ihm breitete sich eine junge Birkenschonung aus; auf einer abgestorbenen Eiche, die ihm gegenüber hoch daraus hervorragte, saß ein alter Kolkrabe, der hüpfend und flügelspreizend an dem Halbteil eines jungen Hasen zehrte. Ohne Anteil, wie ohne Anreiz, sah Rudolf diesem Treiben zu; der Räuber hatte nichts von ihm zu fürchten. Plötzlich wandte er den Kopf; der Laut von Stimmen, die wie im Gespräche miteinander wechselten, war an sein Ohr gedrungen; und jetzt, in der Richtung vom Schlosse her, näherten sich auch Schritte auf dem Fußsteige, welcher durch den älteren Bestand des Waldes hier vorbeiführte. Rudolf hatte bereits die Stimme des Grafen erkannt; die andre mochte dessen Schwiegervater, dem alten General, gehören, der vor einigen Tagen zum Besuch gekommen war. Er wollte aufstehen und sich unbemerkt entfernen; aber ein Wort, das er deutlich genug vernahm, bannte ihn noch an seine Stelle. »Dein junger Förster«, sagte die ältere Stimme, »soll ja ein liebenswürdiger Mann sein; auch von passabler Familie, wie es heißt.«
Eine Antwort des Grafen vernahm Rudolf nicht; sie mochte nur in einer bezeichnenden Gebärde bestanden haben; denn nach einer Pause hörte er den andern wieder sagen: »Du scheinst nicht beizustimmen; nun, ich hörte auch nur so.«
»O doch«, kam jetzt des Grafen Stimme; »er schien sich anfangs auch gut anzulassen; aber seit ein paar Monaten weißt du, ich sehe jetzt, Papa: ein guter Mann, aber ein schlechter Musikant!«
Der alte Herr lachte behaglich: »Und ich dachte, daß gerade die Musik zu seinen Liebenswürdigkeiten zählte!«
»Ja, ja, das ist nun schon, Papa; er spielt Chopin und hat Jean Paul gelesen, aber das alles hilft nur nicht.«
Das übrige ging dem Lauschenden verloren, die Herren waren eben hinter den Erdhügel getreten, in dessen Mitte sich der Stein befand. Rudolf schloß die Augen ; er mußte ja gleich ein Weiteres vernehmen, sobald die beiden auf dem Steige fortgingen; aber es blieb noch immer still, nur das Klopfen seines Herzens wurde immer lauter, fast, dachte er, könne es ihn verraten. Dann wieder war ihm doch, als ob er sprechen höre; weshalb setzten denn die Herren ihren Weg nicht fort? Studierten sie die Runen auf dem Felsblock, oder waren sie nur in näherer Erörterung ihres Gesprächsstoffes stehengeblieben? Alle peinlichen Augenblicke seines kurzen Amtslebens tauchten in schroffen Umrissen vor ihm auf, und ihm war auf einmal, als höre er das alles von der überlegenen Stimme des Grafen punktweise auseinandersetzen.
Er schüttelte sich, er wußte ja, daß das nur Täuschung sei. Aber jetzt kamen die Schritte wirklich auf der andern Seite des Hügels hervor; der alte Herr schien zuletzt gesprochen zu haben, denn der Graf antwortete, und laut genug, daß der junge Förster jedes Wort verstehen konnte: »Sie haben recht, Papa, aber – passons là-dessus! Der Vater hatte auch so seine Talente, konnte Klavier spielen und Walzer komponieren, er war mein Schulkamerad, und Sie wissen, man sollte es nicht, aber – enfin, man trägt doch immer wieder der Vergangenheit Rechnung.«
Es trat eine Stille ein, und die Schritte der Herren entfernten sich, bis sie allmählich unhörbar wurden.
Der unglückliche Lauscher nickte düster vor sich hin: »Bis hieher, niemals weiter!« Der ihm bekannte Inhalt der Runenzeilen kam ihm immer wieder. Sollte der alte Stein auch noch den jetzt Lebenden die Grenze weisen? – Da fiel sein Auge auf die abgestorbene Eiche, wo noch immer, hüpfend und flügelspreizend, der Rabe an dem toten Hasen fraß und zupfte. Hastig, wie in gewaltsamer Befreiung, sprang er auf und griff nach seiner Büchse. Ein Druck noch, ein Knall »Niemals weiter!« schrie er, und der mächtige Vogel samt seiner Beute stürzte polternd durch die dürren Äste.
1 comment