Er begriff, daß ein junges
Weib nicht wie Juwelen und Perlen verwahrt werden könne; er wußte, daß
sie vielmehr einem Garten voll schöner Früchte gleicht, die für
jedermann so wie für den Herrn verloren wären, wenn er eigensinnig die
Türe auf einige Jahre verschließen wollte. Er sprach mir daher vor
seiner Abreise sehr ernstlich zu, er versicherte mir, daß ich ohne
Freund nicht würde leben können, er gab mir dazu nicht allein die
Erlaubnis, sondern er drang in mich und nötigte mir gleichsam das
Versprechen ab, daß ich der Neigung, die sich in meinem Herzen finden
würde, frei und ohne Anstand folgen wollte."
Sie hielt einen Augenblick inne, aber bald gab ihr ein
vielversprechender Blick des jungen Mannes Mut genug, in ihrem
Bekenntnis fortzufahren.
"Eine einzige Bedingung fügte mein Gemahl zu seiner übrigens so
nachsichtigen Erlaubnis. Er empfahl mir die äußerste Vorsicht und
verlangte ausdrücklich, daß ich mir einen gesetzten, zuverlässigen,
klugen und verschwiegenen Freund wählen sollte. Ersparen Sie mir, das
übrige zu sagen, mein Herr, ersparen Sie mir die Verwirrung, mit der
ich Ihnen bekennen würde, wie sehr ich für Sie eingenommen bin, und
erraten Sie aus diesem Zutrauen meine Hoffnungen und meine Wünsche."
Nach einer kurzen Pause versetzte der junge, liebenswürdige Mann mit
gutem Bedachte: "Wie sehr bin ich Ihnen für das Vertrauen verbunden,
durch welches Sie mich in einem so hohen Grade ehren und glücklich
machen! Ich wünsche nur lebhaft, Sie zu überzeugen, daß Sie sich an
keinen Unwürdigen gewendet haben. Lassen Sie mich Ihnen zuerst als
Rechtsgelehrter antworten; und als ein solcher gesteh ich Ihnen, daß
ich Ihren Gemahl bewundere, der sein Unrecht so deutlich gefühlt und
eingesehen hat, denn es ist gewiß, daß einer, der ein junges Weib
zurückläßt, um ferne Weltgegenden zu besuchen, als ein solcher
anzusehen ist, der irgendein anderes Besitztum völlig derelinquiert
und durch die deutlichste Handlung auf alles Recht daran Verzicht tut.
Wie es nun dem ersten besten erlaubt ist, eine solche völlig ins
Freie gefallene Sache wieder zu ergreifen, so muß ich es um so mehr
für natürlich und billig halten, daß eine junge Frau, die sich in
diesem Zustande befindet, ihre Neigung abermals verschenke und sich
einem Freunde, der ihr angenehm und zuverlässig scheint, ohne Bedenken
überlasse.
Tritt nun aber gar wie hier der Fall ein, daß der Ehemann selbst,
seines Unrechts sich bewußt, mit ausdrücklichen Worten seiner
hinterlassenen Frau dasjenige erlaubt, was er ihr nicht verbieten kann,
so bleibt gar kein Zweifel übrig, um so mehr, da demjenigen kein
Unrecht geschieht, der es willig zu ertragen erklärt hat.
Wenn Sie mich nun", fuhr der junge Mann mit ganz andern Blicken und
dem lebhaftesten Ausdrucke fort, indem er die schöne Freundin bei der
Hand nahm, "wenn Sie mich zu Ihrem Diener erwählen, so machen Sie mich
mit einer Glückseligkeit bekannt, von der ich bisher keinen Begriff
hatte. Sein Sie versichert", rief er aus, indem er die Hand küßte,
"daß Sie keinen ergebnern, zärtlichern, treuern und verschwiegenern
Diener hätten finden können!"
Wie beruhigt fühlte sich nach dieser Erklärung die schöne Frau. Sie
scheute sich nicht, ihm ihre Zärtlichkeit aufs lebhafteste zu zeigen;
sie drückte seine Hände, drängte sich näher an ihn und legte ihr Haupt
auf seine Schulter. Nicht lange blieben sie in dieser Lage, als er
sich auf eine sanfte Weise von ihr zu entfernen suchte und nicht ohne
Betrübnis zu reden begann: "Kann sich wohl ein Mensch in einem
seltsamern Verhältnisse befinden? Ich bin gezwungen, mich von Ihnen
zu entfernen und mir die größte Gewalt anzutun in einem Augenblicke,
da ich mich den süßesten Gefühlen überlassen sollte. Ich darf mir das
Glück, das mich in Ihren Armen erwartet, gegenwärtig nicht zueignen.
Ach! wenn nur der Aufschub mich nicht um meine schönsten Hoffnungen
betriegt!"
Die Schöne fragte ängstlich nach der Ursache dieser sonderbaren
äußerung.
"Eben als ich in Bologna", versetzte er, "am Ende meiner Studien war
und mich aufs äußerste angriff, mich zu meiner künftigen Bestimmung
geschickt zu machen, verfiel ich in eine schwere Krankheit, die, wo
nicht mein Leben zu zerstören, doch meine körperlichen und
Geisteskräfte zu zerrütten drohte. In der größten Not und unter den
heftigsten Schmerzen tat ich der Mutter Gottes ein Gelübde, daß ich,
wenn sie mich genesen ließe, ein Jahr lang in strengem Fasten
zubringen und mich alles Genusses, von welcher Art er auch sei,
enthalten wolle. Schon zehn Monate habe ich mein Gelübde auf das
treulichste erfüllt, und sie sind mir in Betrachtung der großen
Wohltat, die ich erhalten, keinesweges lang geworden, da es mir nicht
beschwerlich ward, manches gewohnte und bekannte Gute zu entbehren.
Aber zu welcher Ewigkeit werden mir nun zwei Monate, die noch übrig
sind, da mir erst nach Verlauf derselben ein Glück zuteil werden kann,
welches alle Begriffe übersteigt! Lassen Sie sich die Zeit nicht lang
werden und entziehen Sie mir Ihre Gunst nicht, die Sie mir so
freiwillig zugedacht haben!"
Die Schöne, mit dieser Erklärung nicht sonderlich zufrieden, faßte
doch wieder bessern Mut, als der Freund nach einigem Nachdenken zu
reden fortfuhr: "Ich wagte kaum, Ihnen einen Vorschlag zu tun und das
Mittel anzuzeigen, wodurch ich früher von meinem Gelübde entbunden
werden kann. Wenn ich jemand fände, der so streng und sicher wie ich
das Gelübde zu halten übernähme und die Hälfte der noch übrigen Zeit
mit mir teilte, so würde ich um so geschwinder frei sein, und nichts
würde sich unsern Wünschen entgegenstellen. Sollten Sie nicht, meine
süße Freundin, um unser Glück zu beschleunigen, willig sein, einen
Teil des Hindernisses, das uns entgegensieht, hinwegzuräumen? Nur der
zuverlässigsten Person kann ich einen Anteil an meinem Gelübde
übertragen; es ist streng, denn ich darf des Tages nur zweimal Brot
und Wasser genießen, darf des Nachts nur wenige Stunden auf einem
harten Lager zubringen und muß ungeachtet meiner vielen Geschäfte eine
große Anzahl Gebete verrichten. Kann ich, wie es mir heute geschehen
ist, nicht vermeiden, bei einem Gastmahl zu erscheinen, so darf ich
deswegen doch nicht meine Pflicht hintansetzen, vielmehr muß ich den
Reizungen aller Leckerbissen, die an mir vorübergehen, zu widerstehen
suchen. Können Sie sich entschließen, einen Monat lang gleichfalls
alle diese Gesetze zu befolgen, so werden Sie alsdann sich selbst in
dem Besitz eines Freundes desto mehr erfreuen, als Sie ihn durch ein
so lobenswürdiges Unternehmen gewissermaßen selbst erworben haben."
Die schöne Dame vernahm ungern die Hindernisse, die sich ihrer Neigung
entgegensetzten; doch war ihre Liebe zu dem jungen Manne durch seine
Gegenwart dergestalt vermehrt worden, daß ihr keine Prüfung zu streng
schien, wenn ihr nur dadurch der Besitz eines so werten Gutes
versichert werden konnte. Sie sagte ihm daher mit den gefälligsten
Ausdrücken: "Mein süßer Freund! das Wunder, wodurch Sie Ihre
Gesundheit wiedererlangt haben, ist mir selbst so wert und
verehrungswürdig, daß ich es mir zur Freude und Pflicht mache, an dem
Gelübde teilzunehmen, das Sie dagegen zu erfüllen schuldig sind. Ich
freue mich, Ihnen einen so sichern Beweis meiner Neigung zu geben; ich
will mich auf das genaueste nach Ihrer Vorschrift richten, und ehe Sie
mich lossprechen, soll mich nichts von dem Wege entfernen, auf den Sie
mich einleiten."
Nachdem der junge Mann mit ihr aufs genaueste diejenigen Bedingungen
abgeredet, unter welchen sie ihm die Hälfte seines Gelübdes ersparen
konnte, entfernte er sich mit der Versicherung, daß er sie bald wieder
besuchen und nach der glücklichen Beharrlichkeit in ihrem Vorsatze
fragen würde, und so mußte sie ihn gehen lassen, als er ohne
Händedruck, ohne Kuß, mit einem kaum bedeutenden Blicke von ihr schied.
Ein Glück für sie war die Beschäftigung, die ihr der seltsame
Vorsatz gab, denn sie hatte manches zu tun, um ihre Lebensart völlig
zu verändern. Zuerst wurden die schönen Blätter und Blumen
hinausgekehrt, die sie zu seinem Empfang hatte streuen lassen; dann
kam an die Stelle des wohlgepolsterten Ruhebettes ein hartes Lager,
auf das sie sich, zum erstenmal in ihrem Leben nur von Wasser und Brot
kaum gesättigt, des Abends niederlegte. Des andern Tages war sie
beschäftigt, Hemden zuzuschneiden und zu nähen, deren sie eine
bestimmte Zahl für ein Armen—und Krankenhaus fertig zu machen
versprochen hatte. Bei dieser neuen und unbequemen Beschäftigung
unterhielt sie ihre Einbildungskraft immer mit dem Bilde ihres süßen
Freundes und mit der Hoffnung künftiger Glückseligkeit, und bei
ebendiesen Vorstellungen schien ihre schmale Kost ihr eine
herzstärkende Nahrung zu gewähren.
So verging eine Woche, und schon am Ende derselben fingen die Rosen
ihrer Wangen an, einigermaßen zu verbleichen. Kleider, die ihr sonst
wohl paßten, waren zu weit und ihre sonst so raschen und muntern
Glieder matt und schwach geworden, als der Freund wieder erschien und
ihr durch seinen Besuch neue Stärke und Leben gab. Er ermahnte sie,
in ihrem Vorsatze zu beharren, munterte sie durch sein Beispiel auf
und ließ von weitem die Hoffnung eines ungestörten Genusses
durchblicken. Nur kurze Zeit hielt er sich auf und versprach, bald
wiederzukommen.
Die wohltätige Arbeit ging aufs neue muntrer fort, und von der
strengen Diät ließ man keineswegs nach. Aber auch, leider! hätte sie
durch eine große Krankheit nicht mehr erschöpft werden können. Ihr
Freund, der sie am Ende der Woche abermals besuchte, sah sie mit dem
größten Mitleiden an und stärkte sie durch den Gedanken, daß die
Hälfte der Prüfung nun schon vorüber sei.
Nun ward ihr das ungewohnte Fasten, Beten und Arbeiten mit jedem Tage
lästiger, und die übertriebene Enthaltsamkeit schien den gesunden
Zustand eines an Ruhe und reichliche Nahrung gewöhnten Körpers
gänzlich zu zerrütten. Die Schöne konnte sich zuletzt nicht mehr auf
den Füßen halten und war genötigt, ungeachtet der warmen Jahrszeit
sich in doppelte und dreifache Kleider zu hüllen, um die beinah völlig
verschwindende innerliche Wärme einigermaßen zusammenzuhalten. Ja sie
war nicht länger imstande, aufrecht zu bleiben, und sogar gezwungen,
in der letzten Zeit das Bett zu hüten.
Welche Betrachtungen mußte sie da über ihren Zustand machen! Wie oft
ging diese seltsame Begebenheit vor ihrer Seele vorbei, und wie
schmerzlich fiel es ihr, als zehn Tage vergingen, ohne daß der Freund
erschienen wäre, der sie diese äußersten Aufopferungen kostete!
Dagegen aber bereitete sich in diesen trüben Stunden ihre völlige
Genesung vor, ja sie ward entschieden. Denn als bald darauf ihr
Freund erschien und sich an ihr Bette auf eben dasselbe Taburett
setzte, auf dem er ihre erste Erklärung vernommen hatte, und ihr
freundlich, ja gewissermaßen zärtlich zusprach, die kurze Zeit noch
standhaft auszudauern, unterbrach sie ihn mit Lächeln und sagte: "Es
bedarf weiter keines Zuredens, mein werter Freund, und ich werde mein
Gelübde diese wenigen Tage mit Geduld und mit der überzeugung
ausdauern, daß Sie es mir zu meinem Besten auferlegt haben. Ich bin
jetzt zu schwach, als daß ich Ihnen meinen Dank ausdrücken könnte, wie
ich ihn empfinde. Sie haben mich mir selbst erhalten; Sie haben mich
mir selbst gegeben, und ich erkenne, daß ich mein ganzes Dasein von
nun an Ihnen schuldig bin.
Wahrlich! mein Mann war verständig und klug und kannte das Herz einer
Frau; er war billig genug, sie über eine Neigung nicht zu schelten,
die durch seine Schuld in ihrem Busen entstehen konnte, ja er war
großmütig genug, seine Rechte der Forderung der Natur hintanzusetzen.
Aber Sie, mein Herr, Sie sind vernünftig und gut; Sie haben mich
fühlen lassen, daß außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr
das Gleichgewicht halten kann, daß wir fähig sind, jedem gewohnten Gut
zu entsagen und selbst unsere heißesten Wünsche von uns zu entfernen.
Sie haben mich in diese Schule durch Irrtum und Hoffnung geführt; aber
beide sind nicht mehr nötig, wenn wir uns erst mit dem guten und
mächtigen Ich bekannt gemacht haben, das so still und ruhig in uns
wohnt und so lange, bis es die Herrschaft im Hause gewinnt, wenigstens
durch zarte Erinnerungen seine Gegenwart unaufhörlich merken läßt.
Leben Sie wohl! Ihre Freundin wird Sie künftig mit Vergnügen sehen;
wirken Sie auf Ihre Mitbürger wie auf mich; entwickeln Sie nicht
allein die Verwirrungen, die nur zu leicht über Besitztümer entstehen,
sondern zeigen Sie ihnen auch durch sanfte Anleitung und durch
Beispiel, daß in jedem Menschen die Kraft der Tugend im Verborgenen
keimt; die allgemeine Achtung wird Ihr Lohn sein, und Sie werden mehr
als der erste Staatsmann und der größte Held den Namen Vater des
Vaterlandes verdienen."
Ende dieses Projekt BookishMall.com Etextes "Unterhaltungen deutscher
Ausgewanderten" von Johann Wolfgang von Goethe.
.
1 comment