Das Unbezahlbare, das Höchste läßt sich niemals mit Münze ausgleichen, das weiß ich so gut, wie du. Aber eben deswegen muß ein Leben, wie das des Kindes, das die Mutter, wenn es entflohen ist, nicht mit Millionen zurückkaufen kann, mit Dank, mit Kleinigkeit, mit Hülfe erwidert und belohnt werden. Der Wohltäter fühlt dies auch selbst und nimmt das, was Freundschaft reicht, wenn er es bedarf, mit Rührung an, als wenn es ein großer Schatz wäre. Sind wir doch immerdar mit dem Leben und den Elementen, die uns beherrschen, im Kampf: kann ich dem Nebenmenschen diesen erleichtern, so tue ich, selbst durch eine Kleinigkeit, etwas Gutes.«

»Alles wahr«, sagte Vittoria, »aber darum ist auch in diesem Falle, der so gewichtig ist, Wohlwollen und Freundschaft, ein Entgegenkommen im Vertrauen, ein kindliches und brüderliches Verhältnis, so daß ein solcher Wohltäter mit zur Familie gehört – für den Zartfühlenden der wahre Dank und die größte Belohnung. So sollten wir mit diesem freundlichen und bescheidenen Camillo sein, und auch in Rom seine arme Eltern manchmal sehn, die sich gewiß durch solche Auszeichnung sehr geschmeichelt und beglückt fühlen würden.«

Die Mutter stand auf, und ging heftig im Saale auf und ab. »Also dahin sollte es kommen?« sagte sie und setzte sich wieder langsam in den Sessel. »Vielleicht bereitet sich uns allen von diesem Zufalle aus ein trauriges Schicksal. Eben alles dies, was du mir deklamierend hergesagt hast, wollte ich vermeiden und unmöglich machen, weil ich das menschliche Herz besser kenne als du. Weil sich so natürlich ein vertrauliches Verhältnis, eine brüderliche Annäherung aus solchem Unglück entwickelt, weil für dieses ein eigentlicher Dank und eine Belohnung unmöglich sind: so will der erst so großmütige Wohltäter nur gar zu leicht das gerettete Wesen selbst an Zahlungs Statt, und vernichtet so seinen Dienst, indem er sich das Liebste eigennützig zum Opfer bestimmt; die Gerettete ist oft im Überschwang des Dankes schwach genug, eine solche Schuldforderung anzuerkennen, ohne einzusehn, daß sie auf diesem Wege nur später eines andern Todes stirbt. Und sollte ich dich je auf diese Weise verlieren können, so wäre es mir eben auch nicht schmerzlicher, wenn dich die rasenden Wogen dort verschlungen hätten. Gerade darum muß nun dieser Mattei unser Haus so wenig wie möglich betreten; wir sind ihm zum höchsten Dank verpflichtet, aber wir müssen uns ihm mehr als je entfremden: er muß fühlen, daß wir in verschiedenartigen Elementen leben, und daß unsere Lebenskreise sich niemals berühren können.«

»Ihr überrascht mich, Mutter«, sagte Vittoria hoch errötend. »Nein, ich bin diesem kleinen freundlichen Camillo so gut, fast wie unserm Flaminio da – aber deswegen – – was du andeutest Frau Julia, davon könnte ja niemals die Rede sein. Du sagst, du kennst das menschliche Herz besser als ich – kann sein; aber ich kenne mein eigenes Herz, mein Wesen, das dir doch vielleicht in einigen Teilen noch fremd und unbekannt ist.«

»Wie die Jugend in ihrer Unerfahrenheit spricht!« antwortete die Matrone nicht ohne Heftigkeit. »Dein Herz! dein Wesen! Hast du denn schon etwas der Art, da du noch gar kein Schicksal, keinen großen, mächtigen Schmerz erfahren und erlebt hast? Ehe das Eisen geschmolzen, gehärtet und gehämmert wurde, ist es eine unscheinbare Erdscholle, ohne elastische Kraft, Schneide und Widerstand. Dein Wesen ist nur noch Traum und Ahnung; was du bis jetzt warst und geworden, ist nur noch Widerschein meines Geistes, Denkens und meiner Erfahrung. Glaube mir, Kind, es schlafen in uns gräßliche Gespenster, tief im Hintergrund unserer Seele, wohin der Blick der spielenden Jugend und die vorlaute Phantasie niemals reicht. Man lernt alle Menschen früher als sich selber kennen. Wäre nun dieser Camillo immerdar um dich, gewöhnte sein Gemüt so an deinen Umgang, daß dieser ihm zu seinem Dasein unentbehrlich würde, und du wolltest ihn nun als einen Überlästigen abschütteln, so würde er aus Eitelkeit, verletztem Gefühl, Zärtlichkeit und Kränkung in eine solche tödliche Leidenschaft geraten, so in Wut, Eigennutz und Aufopferung rasen, so vor deinen Augen hinsterben, daß dein Mitleid, Kummer, Gewissen, die Vorwürfe, die du dir machtest, dein eignes Wesen dir ganz verhüllen könnten, daß du auch auf eine Zeitlang glaubtest, dieselbe Leidenschaft zu empfinden, und du zu spät deine Aufopferung bereutest. Glaube mir, alles dies geschieht, sogar nicht selten, und so erwachsen nur zu oft aus scheinbarer Liebe die unglücklichsten Ehen. In gewissen Stimmungen werfen wir unser Selbst und Heiligstes mit mehr Leichtsinn hinweg, als wir dem gierigen Hunde den Knochen hinschleudern. Eine freie und edle Wahl, meine Vittoria, muß deine Vermählung mit einem ausgezeichneten und hochstehenden Manne herbeiführen, er muß deiner wert sein, so daß dein reiches Wesen durch ihn gewinnt. Dazu gehört vor allen Dingen, daß er dich versteht, daß er die Welt und den Adel echter Geister kennt; ein solcher muß dich erheben, du nicht ihn. Das dürftigste Schicksal, das kläglichste, entwickelt sich in den Ehen, in welchen das Weib höher steht, als der Mann.«

Vittoria hatte ihr feuriges Auge sinken lassen, ihr schönes Haupt ruhte zwischen beiden Händen, indem sie die Arme auf den Tisch stützte, so daß die fließenden Haare dunkel, wie eine Wolke, niederwallten. Plötzlich sah sie auf, wie von einem Traume erwachend, und erschrak fast, als sie ihren Bruder Flaminio in der Nähe erblickte. Sie stand auf, flüsterte dem Bruder leise etwas zu, worauf dieser das Zimmer verließ. »Was hast du, Tochter?« fragte die erstaunte Mutter.

»Ich wollte dir nur sagen«, erwiderte sie, »und das sollte mein junger Bruder nicht hören, daß ich gar nicht, niemals heiraten will und werde.«

»Du hast heute deinen törichten Tag«, erwiderte jene: »kann mein Kind sich so etwas vornehmen oder beschließen?«

»Ich sehe wohl, Mutter«, sagte Vittoria tief bewegt, »daß du mich, trotz deiner Liebe, nur geringe schätzest. Was nützen uns Bücher, der Umgang mit verständigen Männern, die Kenntnis der Vorzeit und alles, was uns die edelsten Geister singen und sagen, wenn das alles nur wie an Klötzen und Steinen vorübergeht und nicht zu unserem Geiste sagt: stehe auf, die Morgenstunde ist da, rufe aus allen Kammern deines Herzens und Gehirns die Diener, daß sie an die Arbeit gehn, daß in den Wellen des Blutes Entschlüsse und Kräfte erwachen, die das Geistige, Unsichtbare in Tat und Wahrheit verwandeln! Ja, Mutter, und so bin ich geworden, bin so geschaffen, daß ich ein Grauen vor allen Männern empfinde, wenn ich den Gedanken fasse, daß ich ihnen angehören, daß ich ihnen mit meinem ganzen Wesen mich aufopfern soll. Sieh sie doch nur an, auch die Besten, die wir kennen, auch die Vornehmsten: wie dürftig, arm, unzulänglich und eitel sind alle, wenn sie alle Verlegenheit der ersten Besuche ablegen und sich so recht frei und offen zeigen. Diese klägliche Lüsternheit, die aus allen Zügen spricht, wenn das Wort Liebe oder Schönheit nur genannt wird; diese alberne hohnlächelnde Tugend, die jene andern, welche für moralisch gelten wollen, zur Schau tragen; diese Dienstbeflissenheit und das Kriechen vor den Weibern, die sie doch in ihrem Herzen verachten – o weh! wenn ich in diesen Gesellschaften meine Heiterkeit behalten soll, so muß ich mich in einen Traum von Leichtsinn hüllen und meine Beobachtung zum Schlaf einwiegen. Und diesen Herzlosen, Gelangweilten, Geldgierigen, nach Ehrenstellen, und Lob der Großen Durstenden soll ich das Kleinod meines reinen Leibes, meiner Keuschheit und Unschuld hingeben, wie man sich Tisch, Gefäß, Buch oder sonst ein Totes aneignet? Und – nur mit Entsetzen kann ich an diese Aufgabe unsers Lebens denken – wie aus einem Schrank, wie aus lebendigem Sarge soll mir unter Qualen ein Wesen genommen werden, das ich bin und doch nicht bin, das in seinem ersten materiellen Blödsinn mich ebensowenig kennt, vielleicht weniger, wie die Nelke, die ich in meinem Scherben erziehe.