Sie standen für alle Krieger sichtbar im Bug des Schiffs. Ein Angriff auf den Sohn seines Kapitäns würde ihm weder in den Augen der Götter noch in denen der Besatzung zur Ehre gereichen. Yorviks Wangen überzogen sich mit dem Rot der Scham, und Ragnar schaute weg, um den Mann nicht noch mehr zu erniedrigen.
Ragnar warf den Kopf in den Nacken, um die Mähne schwarzer Haare aus den Augen zu bekommen. Während er durch das Peitschen des Windes und die salzige Gischt der stürmisch wogenden See blinzelte, gab er Yorvik insgeheim Recht. Sie würden sterben, wenn kein Wunder geschah. Er fuhr zur See, seit er laufen konnte, und hatte noch nie einen so schlimmen Sturm erlebt.
Finstere Wolken jagten über den Himmel. Es war so dunkel wie in der Nacht, obwohl Mittag war. Gischt wogte, als der Schiffsbug durch die nächste riesige Welle pflügte. Die Drachenhaut des Decks hallte wie eine gewaltige Trommel unter der Wucht des Aufpralls. Er mühte sich, auf dem unablässig schwankenden Deck das Gleichgewicht zu bewahren. Auch über das Dämonengekreisch des Windes konnte er das Ächzen der Schiffsknochen hören. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Meer das Boot verschlang. Es war ein Wettrennen zwischen dem Bemühen der Wellen, die Speer von Russ in tausend Stücke zu schlagen, und dem Bestreben der Drachenhaut, sich unter dem steten Wasserdruck vom Skelett des Schiffs zu schälen und sie damit kentern zu lassen.
Ragnar schauderte nicht nur wegen der kalten, durchweichten Nässe seiner Kleidung. Für ihn wie für alle Angehörigen seines Volks war Ertrinken der schlimmste aller möglichen Tode. Es bedeutete schlicht, in die Klauen der Meerdämonen zu sinken, wo seine Seele in ewiger Knechtschaft gefangen sein würde. Dort gab es keine Möglichkeit, sich seinen Platz unter den Auserwählten zu verdienen. Er würde nicht mit Axt oder Speer in der Hand sterben. Er würde weder einen ruhmreichen Tod noch einen raschen Weg zum Saal der Helden in den Götterbergen finden.
Ein Blick über das regengepeitschte Deck zeigte Ragnar, dass all die gewaltigen Krieger ebenso verängstigt waren wie er, obwohl sie ihre Furcht gut verbargen. Die Anspannung stand in jedem bleichen Gesicht und in jedem blauen Auge.
Der Regen durchnässte ihre langen blonden Haare und verlieh ihnen ein hoffnungsloses, heruntergekommenes Aussehen. Sie saßen zusammengekauert auf ihren Bänken und hielten nutzlose Ruder bereit. Regenjacken aus massiver Drachenhaut lagen über ihren Schultern oder flatterten im Wind wie Fledermausflügel. Jeder der Krieger hatte seine Waffen neben sich auf dem klatschnassen Deck liegen, Waffen, die ohnmächtig gegen den Feind waren, der jetzt ihr Leben bedrohte.
Der Wind heulte, hungrig wie die großen Wölfe Asaheims.
Das Schiff fiel die andere Seite der riesigen Welle hinunter.
Der Drachenzahn am Bug durchschnitt das schäumende Wasser wie ein Speer.
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