Es scheint, daß sie jenen Gang eher hemmt und zurückhält, statt ihn zu beschleunigen? Nun, eben das könnte ihre Nützlichkeit sein... Sicherlich ist sie nachgerade etwas Gröbliches und Bäurisches, das einer zarteren Intelligenz, einem eigentlich modernen Geschmacke widersteht. Sollte sie sich zum mindesten nicht etwas raffinieren?... Sie entfremdet heute mehr, als daß sie verführte... Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht die Kirche gäbe? Die Kirche widersteht uns, nicht ihr Gift... Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das Gift...« – Dies der Epilog eines »Freigeistes« zu meiner Rede, eines ehrlichen Tiers, wie er reichlich verraten hat, überdies eines Demokraten; er hatte mir bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schweigen zu hören. Für mich nämlich gibt es an dieser Stelle viel zu schweigen. –

 

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– Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem »Außerhalb«, zu einem »Anders«, zu einem »Nicht- selbst«: und dies Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks – diese notwendige Richtung nach außen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen – ihr negativer Begriff »niedrig«, »gemein«, »schlecht« ist nur ein nachgebornes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff »wir Vornehmen, wir Guten,[782] wir Schönen, wir Glücklichen!« Wenn die vornehme Wertungsweise sich vergreift und an der Realität versündigt, so geschieht dies in bezug auf die Sphäre, welche ihr nicht genügend bekannt ist, ja gegen deren wirkliches Kennen sie sich spröde zur Wehr setzt: sie verkennt unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre, die des gemeinen Mannes, des niedren Volks; andrerseits erwäge man, daß jedenfalls der Affekt der Verachtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens, gesetzt daß er das Bild des Verachteten fälscht, bei weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit der der zurückgetretene Haß, die Rache des Ohnmächtigen, sich an seinem Gegner – in effigie natürlich – vergreifen wird. In der Tat ist in der Verachtung zu viel Nachlässigkeit, zu viel Leicht-Nehmen, zu viel Wegblicken und Ungeduld mit eingemischt, selbst zu viel eignes Frohgefühl, als daß sie imstande wäre, ihr Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzuwandeln. Man überhöre doch die beinahe wohlwollenden nuances nicht, welche zum Beispiel der griechische Adel in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von sich abhebt; wie sich fortwährend eine Art Bedauern, Rücksicht, Nachsicht einmischt und anzuckert, bis zu dem Ende, daß fast alle Worte, die dem gemeinen Manne zukommen, schließlich als Ausdrücke für »unglücklich«, »bedauernswürdig« übriggeblieben sind (vergleiche deilos, deilaios, poneros, mochtheros letztere zwei eigentlich den gemeinen Mann als Arbeitssklaven und Lasttier kennzeichnend) – und wie andrerseits »schlecht«, »niedrig«, »unglücklich« nie wieder aufgehört haben, für das griechische Ohr in einen Ton auszuklingen, mit einer Klangfarbe, in der »unglücklich« überwiegt: dies als Erbstück der alten edleren aristokratischen Wertungsweise, die sich auch im Verachten nicht verleugnet (– Philologen seien daran erinnert, in welchem Sinne oizyros, anolbos, tlemôn, dystychein, xymphora gebraucht werden). Die »Wohlgeborenen« fühlten sich eben als die »Glücklichen«; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu konstruieren, unter Umständen einzureden, einzulügen (wie es alle Menschen des Ressentiment zu tun pflegen); und ebenfalls wußten sie, als volle, mit Kraft überladene, folglich notwendig aktive Menschen, von dem Glück das Handeln nicht abzutrennen – das Tätigsein wird bei ihnen mit Notwendigkeit ins Glück hineingerechnet (woher eu prattein seine Herkunft[783] nimmt) – alles sehr im Gegensatz zu dem »Glück« auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narkose, Betäubung, Ruhe, Frieden, »Sabbat«, Gemüts-Ausspannung und Gliederstrecken, kurz passivisch auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (gennaios »edelbürtig« unterstreicht die nuance »aufrichtig« und auch wohl »naiv«), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen. Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird not wendig endlich klüger sein als irgendeine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maße ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat – sie ist eben hier lange nicht so wesentlich als die vollkommne Funktions-Sicherheit der regulierenden unbewußten Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit, etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen wiedererkannt haben. Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine Feinde, seine Unfälle, seine Untaten selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuß plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessenmachender Kraft ist (ein gutes Beispiel dafür aus der modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtnis für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm beging, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er – vergaß). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit einem Ruck von sich, das sich bei anderen eingräbt; hier allein ist auch das möglich,[784] gesetzt daß es überhaupt auf Erden möglich ist – die eigentliche »Liebe zu seinen Feinden«. Wieviel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! – und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem nichts zu verachten und sehr viel zu ehren ist! Dagegen stelle man sich »den Feind« vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert – und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat »den bösen Feind« konzipiert, »den Bösen«, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen »Guten« ausdenkt – sich selbst!...[785]

 

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Gerade umgekehrt also wie bei dem Vornehmen, der den Grundbegriff »gut« voraus und spontan, nämlich von sich aus konzipiert und von da aus erst eine Vorstellung von »schlecht« sich schafft! Dies »schlecht« vornehmen Ursprungs und jenes »böse« aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Komplementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche Tat in der Konzeption einer Sklaven-Moral – wie verschieden stehn die beiden scheinbar demselben Begriff »gut« entgegengestellten Worte »schlecht« und »böse« da! Aber es ist nicht derselbe Begriff »gut«: vielmehr frage man sich doch, wer eigentlich »böse« ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet: eben der »Gute« der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment. Hier wollen wir eins am wenigsten leugnen: wer jene »Guten« nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als böse Feinde kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen – sie sind nach außen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene[785] Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft gibt, sie treten in die Unschuld des Raubtier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermute und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, daß die Dichter für lange nun wieder etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildnis zurück – römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff »Barbar« auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind; noch aus ihrer höchsten Kultur heraus verrät sich ein Bewußtsein davon und ein Stolz selbst darauf (zum Beispiel wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühmten Leichenrede, »zu allem Land und Meer hat unsre Kühnheit sich den Weg gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten und Schlimmen aufrichtend«). Diese »Kühnheit« vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen – Perikles hebt die rhathymia der Athener mit Auszeichnung hervor –, ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit – alles faßte sich für die, welche daran litten, in das Bild des »Barbaren«, des »bösen Feindes«, etwa des »Goten«, des »Vandalen« zusammen. Das tiefe, eisige Mißtrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder – ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem jahrhundertelang Europa dem Wüten der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutsverwandtschaft besteht). Ich habe einmal[786] auf die Verlegenheit Hesiods aufmerksam gemacht, als er die Abfolge der Kultur-Zeitalter aussann und sie in Gold, Silber, Erz auszudrücken suchte: er wußte mit dem Widerspruch, den ihm die herrliche, aber ebenfalls so schauerliche, so gewalttätige Welt Homers bot, nicht anders fertig zu werden, als indem er aus einem Zeitalter zwei machte, die er nunmehr hintereinanderstellte – einmal das Zeitalter der Helden und Halbgötter von Troja und Theben, so wie jene Welt im Gedächtnis der vornehmen Geschlechter zurückgeblieben war, die in ihr die eignen Ahnherrn hatten; sodann das eherne Zeitalter, so wie jene gleiche Welt den Nachkommen der Niedergetretenen, Beraubten, Mißhandelten, Weggeschleppten, Verkauften erschien: als ein Zeitalter von Erz, wie gesagt, hart, kalt, grausam, gefühl- und gewissenlos, alles zermalmend und mit Blut übertünchend.