Sie hatte keine Zeit zu verlieren: bald verließ sie die Pension. Sie bot Lola nicht mehr an, sie mit einem Leierkastenmann bekannt zu machen: solche Scherze lagen hinter ihr. Aber Lolas Naivität war doch nicht mit anzusehen.

   „Ich glaube dir einen wirklichen Dienst geleistet zu haben” ; so schloß sie ihre deutlichen Ausführungen.

   „Nun ja”, machte Lola und hob die Schultern. Ihr war beklommen; um so hochmütiger sagte sie sich: ,Ich habe mir die Menschen ganz richtig vorgestellt: Dies setzt allem die Krone auf.’ Sie äußerte:

   „Du entschuldigst wohl, ich muß meinem Vogel Futter “geben.”

   Aber den Vogel, der sie langweilte, vergaß sie gleich wieder und dachte einige Tage an nichts so inständig wie an Jennys Aufschlüsse. Sie riefen phantastische Bilder hervor; und sooft Lola sich über diesen Vorstellungen ertapple, ekelten sie sie. Allmählich zogen sie sich zurück und warfen nur manchmal noch melancholische Schatten herauf. ,Ach, daß es keine reine Liebe gibt.’

   Ein Brief von Pai brachte sie davon ab. Pai schrieb aus Argentinien, wohin seine Geschäfte ihn genötigt hatten.

   „Es geht alles nach Wunsch, und ich darf hoffen, mich bald an dem Ziel zu sehen, das ich mir vorgesteckt habe: die Meinen sicherzustellen und sie in meinem Lande zu vereinigen. Vorerst denke ich Dich, mein Kind, in nächster Zukunft dort aufzusuchen. Nur eine kurze Rückkehr nach Rio ist geboten.”

   ,Und dort hält dann wieder irgend etwas ihn fest’, dachte Lola. ,Das kennen wir doch.’

   Sie glaubte Pai nicht mehr. Vielleicht hatte er die besten Absichten; aber so vieles war ihm wichtiger als Lola und lenkte ihn von ihr ab. Nach all den Jahren konnte er sich höchstens sagen: ,Ich habe eine Tochter’, und den Gedanken an seine Tochter gern haben. Lola gern haben konnte er schwerlich: kannte er sie doch gar nicht.

   ,Nicht von Belang’; damit legte sie den Brief zu den übrigen. Aber bei der Arbeit ertappte sie sich plötzlich auf einer freudigen Unruhe und darauf, daß sie schon während der ganzen letzten Seite nur an Pais Kommen gedacht und alles falsch gemacht hatte. Vergebens ermahnte sie sich: ,Als ich klein war, hat Pai sehr schlecht an mir gehandelt; nie kann ich das vergessen’: - sooft sie an Pais Besuch dachte, bekam sie Herzklopfen. Und allmählich dachte sie nur daran. Unter allen anderen lächelte dieser eine Gedanke, und Lola selbst hatte beständig ein Lächeln zu unterdrücken. In ihr begann ein Steigen und Fallen von Plänen, wie ein Springbrunnen, den man aufschließt: immer höher, immer zuversichtlicher schnellt er empor. Anfangs wagte sie zu hoffen: ,Wenn Pai kommt, vielleicht kann ich mit ihm zusammen wohnen? Einmal doch von den Fremden weg und bei meinem Vater wohnen!’ Dann fiel ihr ein: ,Aber warum denn hier bleiben? Warum nicht eine Reise machen?’ Viele Orte, die sie gern gesehen hätte, sprangen ihr durch den Sinn. Auf einmal stand alles andere slill, und eine kleine schüchterne Stimme fragte: ,Und Rio?’ Zuerst war Lola fassungslos. Plötzlich entschloß sie sich: ,Ja, Rio! Was ist dabei? Wen n ich Pai bitte, wird er mir doch erlauben, Mai wiederzusehen. Die Reise ist jetzt so kurz. Und für ihn ist es das bequemste: er bleibt dann gleich dort, wenn ich zurückfahre.’ Endlich, auf dem Gipfel des Springstrahls: ,Nein! Ich fahre nicht wieder zurück. Bin ich dort, will icli’s schon durchsetzen. Was kann denn Pai dabei tun, wenn ich ihm um den Hals falle und nicht loslasse? Mündlich ist das alles ganz anders als in diesen dummen Briefen. Und schlimmstenfalles stecke ich mich hinter Mai oder hinter die Großeltern auf der Großen Insel - ach nein, sie sind tot! -, oder ich laufe davon: lieber, als daß ich zurückkehre! Oh, jetzt hab ich’s!’

   Sie klatschte in die Hände: zum erstenmal seit den Kinderzeiten. Dann lief sie zu Erneste, ihrem Glücke Luft zu machen. Im Schwatzen bat sie plötzlich, ausgehen zu dürfen. Zuviel blühte in ihr auf, das Haus ward ihr zu eng.