Nun schwatzte und lachte sie mit allen, wahllos und gedankenlos. Keinen Augenblick konnte sie stillhalten. Immer: „Wie seid ihr langweilig!” Und: „Geht heule niemand aus?” Im Gehen, im Durch-die-Straßen-Irren schien ihr’s, als komme sie ihren Wünschen näher. Zu Hause versank man in der Zeit, wie in Lehm. ,Vorwärts, o Gott, nur vorwärts!’

   Eines Tages, wie sie heimkam, trat Berta ihr verstörten Gesichts entgegen.

   „Dein Vogel ist tot”, sagte sie vorwurfsvoll; und Lola, kopflos:

„Wieso?”

   „Ich sollte für Erneste etwas aus eurem Zimmer holen, und da hab ich gesehen, daß er tot ist.”

   Lola schüttelte den Kopf. Sie ging hinein: wirklich, da lag er auf der Seite. Sie streckte mit Widerwillen einen Finger durch die Stäbe und zog ihn rasch wieder zurück, ,1m Näpfchen sind noch viele Körner, er hat schon lange nichts mehr gefressen. Und gestern abend sang er noch; ich mußte ihn zudecken. Nun, diese Art lebt vielleicht nicht länger: tröste dich.’ Sie hatte das Bedürfnis, rasch weiterzukommen. Ihr nach Glück jagender Sinn wußte mit dem Tod, der ihr in den We g trat, nichts anzufangen und erkannte ihn kaum. Wie sie die Tür öffnete, stand jemand davor mit einem schwarzgeränderten Brief. Erstaunt nahm sie ihn und trat zurück ins Zimmer. Die Schrill kannte sie nicht; die ersten Worte hießen:

   .,Liebe Lola! Ein großes Unglück ist geschehen, unser Vater ist gestorben.”

   ,Wessen Vater?’ Sie sah nach der Unterschrift: „Dein Bruder Paolo.” ,Paolo? Welch Unsinn, mein Bruder hieß Nene.’ Sie las weiter.

   „Unser Vater reiste, wie Dir vielleicht bekannt ist, die letzte Zeit in Argentinien, und kaum zurückgekehrt, nahm er das gelbe Fieber: so wahr ist es, daß kein nicht in Rio Geborener sich entfernen darf ohne Gefahr, bei seiner Heimkunft ein Opfer der schrecklichen Krankheit zu werden.”

,Es scheint doch Pai zu sein.’ Sie las noch:

   „Unsere liebe Mama weint mit mir. Weine mit uns, Schwester!”

   ,Pai ist tot?’ dachte Lola. ,Er wollte doch herkommen!’ Ihr planloser Blick durchsuchte das Vogelbauer; da bemerkte sie:

   ,Das sind nur leere Hülsen! Wahrhaftig, kein einziges Korn. Dann ist er verhungert! Ich habe ihn verhungern lassen! Mein Gott! Und ich hatte ihn doch lieb!’

   Sie gedachte, und rang dabei die Hände, der Zeit, da sie den kleinen Vogel fand und zu sich nahm, und der Zärtlichkeit, die sie auf dies rührende, jetzt so kalte Gefieder gehäuft hatte: all das Gefühl, dessen sie nur die luftigeren, gütigeren, reineren Geschöpfe höherer Sterne wertgehalten hatte. Wie hatte es geschehen können, daß ihr diese große Liebe nach und nach ganz aus dem Sinn gekommen war: so sehr, daß dies arme Tier sie langweilte und sie’s verhungern ließ? Wir waren also unseres Herzens nicht sicher? Wie schrecklich! ,Nur aus Eigennutz liebte ich ihn. Ich hätte ihn in seinem Walde lassen sollen. Aber auch er hatte mich lieb: lieber als ich ihn. Er pfiff, wenn ich ins Zimmer trat, und sobald ich die Lippen hinhielt, legte er den Schnabel dazwischen. Gestern abend hat er noch gesungen: vielleicht um mir zu sagen, er sei mir nicht böse.’

   Und unter dem Bewußtsein versäumter Liebe brach sie in die Knie und schluchzte: „Pai ist tot!” Alles, was sie bis dahin gedacht hatte, war nur wie das Keuchen, bevor die schweren Tränen kommen. Jetzt erst wußte Lola: ,Pai ist tot’; und von allen Seiten fiel’s über sie her: ,Du hast ihn nicht liebgehabt. Du bist ihm böse gewesen, hast ihn nicht verstanden. Er wollte dein Bestes und hat nur dafür gearbeitet. Lies seine Briefe!’

   Sie las den letzten und erkannte plötzlich, welche wichtige Sache es für ihn gewesen war, sie wiederzusehen. Die Zeilen zitterten auf einmal von Sehnsucht und Ungeduld: ,Daß ich das nicht gemerkt habe! Ich nannte ihn kalt. Die Kalte war ich: ich wollte nach Hause zurück, vielleicht mehr aus Eigenwillen, aus Hochmut. Das Zusammensein mit ihm genügte mir nicht; er aber sehnte sich nur danach. Wi e er deswegen gelitten haben muß, ehe er starb!’

   Ihr Schmerz entriß ihr selbst alles Herz und gab es dem Toten. So zärtlich war er gewesen! „Es kann ja nur mein einziger Wunsch sein, dich glücklich und zufrieden durchs Leben schreiten zu sehen.” Dies stand in dem Brief, worin er ihr,die erbetene Heimreise abgeschlagen hatte; den sie für den liebeleersten gehalten, wegen dessen sie ihn fast gehaßt hatte! Jetzt lernte sie, in die Worte hineinzuhorchen.