Der Bruder, die Schwester – diesen Namen gab er Christianen – riefen ihn. Er fühlte sich sicher, daß es nur die Schwester war, die ihn zu ihr zog. Doch sie rief ihn ja nicht. Sie trug einen Widerwillen gegen ihn, hatte ihm der Bruder geschrieben, einen Widerwillen, so stark, daß sechs Jahre lang der Bruder vergeblich gegen ihn gekämpft. Es war ihm, als müsse er schon deswegen heim, damit er ihr zeigte, er verdiene ihren Widerwillen nicht, er sei wert, ihr Bruder zu sein. Das schrieb er dem Bruder in dem Briefe, der seinen Gehorsam meldete und den Tag angab, an dem der Bruder ihn erwarten sollte. Er konnte ihn versichern, daß die Erinnerungen an ehemals ihn nicht quälen würden, daß die Sorge des Bruders unbegründet sei.
So war es gekommen, daß der Gedanke an sie keine von den alten Hoffnungen erweckte. Als er von der Höhe herabsah, fragte er sich: »Wird mir's gelingen, ihr Bruder zu werden, die mir jetzt eine Schwester ist?«
Noch eine Weile stand er und sah hinab. Aber seine Haltung hatte sich verändert, und sein Blick war ein anderer geworden. In Gedanken hatte er die letzten sechs Jahre noch einmal durchlebt und war noch einmal aus einem blöden träumerischen Knaben zum Manne geworden. Als sein Blick wieder auf den Turm und die Kirche zu Sankt Georg fiel, hob sich die Hand nicht wie vorhin unwillkürlich, wie um eine unsichtbar ihm hingereichte zu drücken. Er schalt sich über sein kindisches Gaffen. Er mußte sobald als möglich die Dinge in der Nähe sehen, um sich ein Urteil zu bilden, was zu tun sei. Die Liebe zur Heimat war noch so stark in ihm als je, aber es war nicht mehr die des Knaben, dem die Heimat eine Mutter ist, die ihn hätschelnd in die Arme nimmt; es war die Liebe des Mannes. Die Heimat war ihm ein Weib, ein Kind, für das zu schaffen es ihn trieb.
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Wer heute in das Haus hineingehen konnte mit den grünen Fensterladen, etwa eine Stunde vor Mittag, der merkte wohl, daß die Gedanken seiner Bewohner nicht im gewöhnlichen alltäglichen Geleise gingen. Man konnte es sehen an der Art, wie die Leute aufstanden und wie sie sich setzten, wie sie die Türen öffneten und schlossen, wie sie Dinge anfaßten und wieder wegstellten, mit denen sie weiter nichts taten als sie nehmen und wieder hinstellen und offenbar auch weiter nichts tun wollten. Wer sich besinnt, in welcher Gemütslage er am öftesten die Uhr aus der Tasche zog, und noch ehe er sie wieder in die Tasche versenkt, schon vergessen hatte, welche Zeit es sei, und sie wieder hervorholte, und da er nicht wußte, warum er das getan, sie an das Ohr hielt, und ohne gehört zu haben, ob sie noch ging oder nicht, den Uhrschlüssel suchte und sie aufzog, vielleicht zum dritten Male in Zeit von einer Stunde: der wird, falls er sich noch besinnen kann auf das, was er schon damals nicht wußte, als er es tat, erraten können, was die Leute zu aller der zwecklosen Tätigkeit verleitet. Auch der junge Herr, der eben zum sechsten Male seit einer Stunde seine Uhr aufziehen will, ist so wenig mit dem Bewußtsein bei diesem Geschäft, daß er es in der nächsten Viertelstunde zum siebenten Male versuchen wird. Dann setzt er seine wohlgenährte kurze Gestalt auf den Stuhl am Fenster, und es ist ungewiß, ob er hinaus auf die Straße sieht oder ob er bei den Gedanken ist, die in derselben zwecklosen Unruhe, die sein Äußeres zeigt, wie Wolkenschatten an seinem Bewußtsein vorbeiflattern. Er sitzt in schwarzer Sonntagskleidung einer jungen Frau gegenüber. Er hätte Zeit genug zu sehen, wie schön sie ist, wie anmutig ihr das zerstreute Wesen ansteht – und es kleidet sie weit besser als ihn. Zuweilen scheint er es auch zu sehen, aber dann ist es, als wär' es ihm keine Freude. Dann werden die Gedankenschatten auf seinem Gesichte tiefer und flattern nicht mehr so schnell darüber hin. Er betrachtet die schönen Züge der jungen Frau genauer, ja es ist, als ob er sie belauere, als ob er sich sorgenvoll frage, ob sie den Ausdruck von Widerwillen, der über ihnen hängt, behalten werde, bis – und klingt dann zufällig ein stärkerer Tritt von der Straße herein an sein Ohr, dann schrickt er auf, aber er vermeidet ihre schönen offenen Augen, die sie, vom Klange des Tritts geweckt, nach ihm hin aufschlagen kann.
Im Gärtchen kann der alte Valentin einem ebenso alten Herrn im blauen Rock nichts recht machen. Er ist zu aufgeregt und horcht und sieht zu viel durch den Zaun nach der Straße, darüber tut er bald zu wenig, bald zu viel. Und der alte Herr schilt manchmal, scheint es auch nur, um seine eigene Bewegung zu verbergen. Die Hände zittern merklich, mit denen er untersucht, ob die Buchsbaumeinfassung der kleinen Beete auch so eigensinnig gleichmäßig geschoren ist, wie er sie geschoren haben würde, besäße er noch das scharfe Auge von ehedem. Der alte Valentin müßte eine Träne von den hohlen Backen wischen, wie es so oft geschieht, über die Hülflosigkeit des alten Herrn und tausend Vergleiche zwischen sonst und jetzt, die ihm der Anblick derselben herbeiruft; aber seine Augen und seine Gedanken sind auf der Straße vor dem Zaun.
Hinten am Ende des Ganges, neben der Tür des Schuppens, sitzt auf einem Haufen Schieferplatten ein ungemütlicher Gesell in Hemdärmeln. Der Ausdruck seines Gesichtes wechselt ohne sichtbaren äußeren Anlaß zwischen widerwärtiger Zutulichkeit und tückischem Trotz. Er kramt, scheint es, unter seinen Gesichtern wie ein Mädchen in ihrem Schmuck.
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