Aber er brachte den blauen Rock nun auch mit in die Wohnstube. Seine Kinder – das war leicht, da er selbst sich nicht um sie bekümmerte – hatte der Bruder ja auch – und natürlich mit schlechten Mitteln – gewonnen. Diese schlechten Mittel waren eben die, die er selbst nie anwendete: unabsichtliche Güte und weise Strenge der Liebe. Aber auch in seiner Frau sah er immer mehr etwas wie einen natürlichen Bundesgenossen des Bruders gegen ihn. Das sah er lange vorher, ehe er noch den geringsten wirklichen Anlaß dazu hatte, und das war der Schatten, den seine Schuld in die Zukunft seiner Phantasie warf. Ihr altes Gesetz wird ihn zwingen, durch die Verkehrtheit seiner Abwehrmittel den Schatten selber zur wirklichen lebendigen Gestalt zu machen und vergeltend in sein Leben hereinzustellen.
Ahnungsvolle Furcht schien ihm, in lichten Zwischenblicken vorüberflatternd, von diesem Kommen zu sagen, das veränderte Benehmen gegen seine Frau müsse es beschleunigen. Dann war er plötzlich doppelt freundlich und jovial gegen sie, aber auch diese Jovialität trug ein Etwas von der Natur des schwülen Bodens an sich, aus dem sie erwuchs.
Man preist ein Heilmittel gegen solche Krankheit; es heißt Zerstreuung, Vergessen seiner selbst. Als ob der Steuermann beim Erblicken des drohenden Riffes, als ob man da sich vergessen müsse, wo es doppelt Vorsehen gilt. Fritz Nettenmair nahm es.
Von nun fehlte er bei keinem Balle, bei keinem öffentlichen Vergnügen; er empfand sich für immer der Gefahr entflohen, war er nur eine Stunde lang fern von dem Orte, wo er sie drohen sah. Er war mehr außer als in seinem Haus. Und nicht er allein. Seiner Frau hielt er das Heilmittel noch nötiger als ihm. Das rächende Schuldbewußtsein nahm, was nur als möglich in der Zukunft war, als schon wirklich in die Gegenwart voraus. Und seine Frau stand noch so sehr auf seiner Seite, daß sie dem Bruder nun zürnte, dessen Einfluß sie in dem veränderten Benehmen des Gatten erkannte – nur nicht in dem Sinne, in dem er es wirklich war. Sie hatte ja nur Beleidigendes von dem Bruder erwartet. Diese Erwartung hatte schon dem Kommenden nur die eine Wange zugewandt und die Wange so mit Rot gefärbt, als wäre sie schon erfüllt. Wußte sie denn nicht, er war nur gekommen, um sie zu beleidigen?
Apollonius, auf den dies alles wie eine schwere Wolke drückte, wie eine unverstandene Ahnung, begriff nur das eine: der Bruder und die Schwägerin wichen ihm aus. Er vermied die Orte, die sie aufsuchten. Er hätte sie schon vermieden aus dem innersten Bedürfnis seiner Natur, das auf Zusammenfassen, nicht auf Zerstreuen ging. Die Einsamkeit wurde ihm ein besser Heilmittel als den beiden die Zerstreuung. Er sah, wie anders die Schwägerin war, als sie ihm vordem geschienen. Er mußte sich Glück wünschen, daß seine süßesten Hoffnungen sich nicht erfüllt. Die Arbeit gab ihm genug Empfinden seiner selbst; was sie frei ließ, füllten die Kinder aus. In dem natürlichen Bedürfnis ihres Alters, sich an einem fertigen Menschenbilde aufzuranken, das, Liebe gebend und nehmend, ihr Muster wird und ihr Maß der Personen und Dinge, drängten sie sich um den Onkel, der ihrer so freundlich pflegte, als fremd die Eltern sie vernachlässigten. Wie konnte er wissen, daß er damit die Schuld wachsen machte in seiner Rechnung beim Bruder?
Und der alte Herr im blauen Rock? Hatte er von den Wolken, die sich rings aufballten um sein Haus, in seiner Blindheit keine Ahnung? Oder war sie es, was ihn zuweilen anfaßte, wenn er, Apollonius begegnend, gleichgültige Worte mit ihm wechselte. Dann kämpften zwei Mächte auf seiner Stirn, die der Sohn vor dem Augenschirm nicht sah. Er will etwas fragen, aber er fragt nicht. Der alte Herr hat sich so tief in die Wolke eingesponnen, daß kein Weg mehr von ihm herausführt in die Welt um ihn und keiner mehr hinein. Er gibt sich das Ansehen, als wisse er um alles. Tut er anders, so zeigt er der Welt seine Hülflosigkeit und fordert die Welt selber auf, sie zu mißbrauchen.
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