Und wenn er fragt, wird man ihm die Wahrheit sagen? Nein! Er hält die Welt so verstockt gegen ihn, als er gegen sie ist. Er fragt nicht. Er lauscht, wo er weiß, man sieht ihn nicht lauschen, fieberisch gespannt auf jeden Laut. Aus jedem hört er etwas heraus, was nicht drin ist; seine gespannte Phantasie baut Felsen daraus, die ihm die Brust zerdrücken, aber er fragt nicht. Er träumt von nichts, als von Dingen, die Schande bringen über ihn und sein Haus; er leert die ganze Rüstkammer der Entehrung und fühlt jede Schmach durch, die die Welt kennt. Was keine Schande ist, steigert sich seinem krankhaft geschärften Ehrgefühl dazu, das keine Ruhe wohltätig abstumpft, aber er trägt lieber, was die tiefste Schande ist, als daß er fragt. Er tut das Ungeheure in Gedanken, die drohende abzuwenden, aber er fragt nicht. Wie manches Tun zeigt ungeboren schon der Mutter Seele sein Bild vorher! Wird eine Zeit kommen, wo des alten Herrn Gedanke Wirklichkeit wird?
Die Natur der Schuld ist, daß sie nicht allein ihren Urheber in neue Schuld verstrickt. Sie hat eine Zaubergewalt, alle, die um ihn stehen, in ihren gärenden Kreis zu ziehen und zu reifen in ihm, was schlimm ist, zu neuer Schuld. Wohl dem, der sich dieser Zauberkraft im unbefleckten Innern erwehrt! Wird er den Schuldigen selbst nicht retten, so kann er den übrigen ein Engel sein. Diese vier Menschen, in all ihrer Verschiedenheit in einen Lebensknoten geknüpft, den eine Schuld versehrt! Welch Schicksal werden sie vereint sich spinnen, die Leute in dem Haus mit den grünen Laden?
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Nun waren schon Wochen vergangen seit Apollonius' Zurückkunft, und noch hatte er die Furcht der Schwägerin nicht wahr gemacht. In den ersten Tagen las Fritz Nettenmair ein krampfhaftes Zusammennehmen, ein verzweifeltes Gefaßtmachen in ihrem Wesen; nun machte dies einem Etwas Platz, das wie Verwunderung erschien. Er sah, und nur er, wie sie immer mutiger den Bruder zu beobachten begann, wo der nicht ahnte, ihr Blick sei auf ihn gerichtet. Sie schien sein Wesen, sein Tun mit ihrer Erwartung zu vergleichen. Fritz Nettenmair fühlte in ihrer Seele, wie wenig beide sich glichen. Er mühte sich, den Widerwillen der jungen Frau zu seiner alten Stärke aufzustacheln. Er tat es, während er fühlte, wie vergeblich es war; denn ein einziger Blick auf das milde rechtschaffene Antlitz des Bruders mußte niederreißen, was er mühsam in Zeit von Tagen aufgebaut. Er fühlte, wie fein er zu Werke gehen mußte und wie plump er doch zu Werke ging; denn dieselbe Macht, die sein Gefühl für das Maß schärfte, riß ihn im Handeln darüber hinaus. Er wußte, was er begonnen, mußte seinen Gang vollenden zu seinem Verderben. Er suchte Vergessen und riß seine Frau immer tiefer mit hinein in den Wirbel der Zerstreuung.
Arzneimittel sollen, in übergroßer Gabe angewandt, das Gegenteil wirken. So geschah es mit dem Mittel Fritz Nettenmairs; wenigstens bei der jungen Frau. Aus dem Alltag der häuslichen Arbeit hatte sie sich sonst nach dem Feste des Vergnügens gesehnt; nun dies der Alltag geworden, zog sie die Sehnsucht nach dem stillen Leben daheim. Übersättigt von den Ehrenbezeugungen der bedeutenden Leute, bemerkte sie nun erst, es gab auch andere: Leute, die ihren Gatten nach anderem Maßstabe maßen. Sie begann zu vergleichen, und die Bedeutenden verloren immer mehr gegen die Alltagsmenschen. Sie dachte an den ledernen Ball den Abend von Apollonius' Ankunft. Damals war sie Apollonius ausgewichen; sie hatte Beleidigung von ihm erwartet. Jetzt suchte sie mit den Augen durch den Saal; niemand sah es als Fritz Nettenmair, der es am wenigsten zu sehen schien. Denn er lachte und trank wilder und jovialer als je. Sie hatte nur das Gefühl der Langeweile, das nach Abwechselung aussieht; sie wußte nicht, daß sie jemand suchte. Fritz Nettenmair wußte es und wollte vor Lachen ersticken.
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